Die Freiheit zur Krankheit




Die Freiheit zur Krankheit
Ada Frankiewicz

Hannover - 2021 (2023)
2te inhaltlich identische lektorierte Auflage
ISBN 9789403613635
Internet: http://www.ethikkommission.info
Copyright für diese Texte: CC BY SA

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Weitere Texte und Infos
zum Thema Kritik der Krankheitsdiskurse und der 'Infektionsschutzpolitik' im Kontext der Covid 19 / Corona Pandemie






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Inhalt

Vorwort


Unter Biopolitik versteht der französische Philosoph Michel Foucault die auf den Körper des Einzelnen und auf den Bevölkerungskörper insgesamt ausgerichteten Praxen der Normalisierung und Disziplin, um diese Körper zu optimieren, um ihre Produktivität im Sinne der Norm zu steigern und Störungen der gesellschaftlichen Funktionsabläufe zu unterbinden. Die Seuche im Jahr 2020 wurde in diesem Sinn zum Versuch der Etablierung einer neuen körperlichen und gesellschaftlichen Normalität genutzt, mit dem Ziel, bereits vorher angestrebte Durchgriffe auf die Subjekte durchzusetzen und ihren passförmigen Umbau für die Verwertungsprozesse des digitalen Kapitalismus´ zu organisieren. Die Fremdbestimmung dieser Prozesse zu unterlaufen, muss Anliegen jedes politisch kritischen Ansatzes sein, in dessen Mittelpunkt die Selbstbestimmung der Subjekte steht. Krisenzeiten sind Zeiten, in denen sich diese Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Körper zuspitzen.

Dieses Buch nimmt im ersten Text 'Ausweitung des biopolitischen Zugriffs auf die Subjekte in Zeiten der Seuche' diese aktuellen Entwicklungen in den Blick. Der Text wird durch einen älteren Text ergänzt, der ein Schlaglicht auf vorhergehende Entwicklungen der aktuellen Biopolitik wirft. Der Text 'Biopolitik & die Individualisierung der Öffentlichen Gesundheit' aus dem Jahr 2012 wies bereits damals auf die Gefahren der Reduktion von Menschen auf Datensätze hin, eines reduktionistischen Blicks, der in Zeiten der Seuche nun verallgemeinert wurde.

Ausgangspunkt dieser Texte ist eine durch anarchistische Ideen beeinflusste Sicht auf die Individuen und die Gesellschaft. Das heißt, die staatliche Biopolitik wird als direkter Angriff auf die Freiheit und die Selbstbestimmung des Subjekts begriffen. Bereits der untersuchende Blick der Medizin auf den Körper – und dadurch vermittelt auf den Menschen – konstituiert wesentliche Teile des Verhältnisses des Menschen zum eigenen Körper und zu sich selbst und widerspricht in seiner totalitären Anmaßung der Freiheit des Subjekts. Die Ausweitung dieser Kontrollen im postmodernen biopolitischen Selbstmanagement mit Smartwatch und Dauerüberwachung ist das Gegenteil von Selbstbestimmung. Jede Linke, die eine antiautoritäre Utopie vertritt, muss hier Möglichkeiten der Gegenwehr und des Entzugs und Alternativen finden. Zum Kern der Freiheit des Subjekts gehört die körperliche Selbstbestimmung inklusive der Freiheit zur Krankheit, der Freiheit, Krankheitsrisiken einzugehen, der Freiheit zum ungesunden Leben, aber auch der Freiheit, sich davor zu schützen. Die Entscheidungen über den eigenen Körper, z. B. für Krankheit, müssen anderen gegenüber nicht begründet werden, sie müssen keiner von anderen nachvollziehbaren Vernunft Rechnung tragen. Es reicht, dass sie bewusst und frei gefällt wurden.

Leben bedeutet auch zu sterben, Krankheit und Verfall. Der Versuch, diese Teile des Lebens vollständig zu negieren, führt notwendigerweise zu einem Leben, das mit wirklichem Leben so vergleichbar ist, wie Friedhofsruhe mit Freiheit. Da aber der Körper und die Menschen in ihrem gesamten Sein im Zuge der Ausweitung der Akkumulationsregime im Digital- und Finanzkapitalismus immer stärker in den Verwertungsfokus des Kapitals geraten, und die biopolitische Optimierung der Subjekte als einer der Wachstumsmärkte der Zukunft gehandelt wird, gerät das Nichtbekämpfen körperlichen Verfalls zunehmend zum Stigma. Und es besteht die akute Gefahr, dass in diesem Kontext die Verschärfungen der Kontrollmechanismen und Zugriffe im Zuge der Seuche zur neuen Normalität werden – insbesondere unter Berücksichtigung der schon länger laufenden Politiken der 0-Toleranz gegen biopolitische AbweichlerInnen.

Die Texte in diesem Buch sind Streitschriften, sie sind nicht dazu gedacht, Diskurse abzuschließen, sondern neue Blickwinkel, Gedanken, Sichtweisen zu eröffnen und Diskurse zu erweitern. Sie sind zwar dem rationalen Diskurs verpflichtet, aber keine Wissenschaftstexte, sondern begreifen sich als Denkanstoß. Die LeserInnen sollten, wie jeden Text, auch diesen Text kritisch lesen und sich ihre eigenen Gedanken machen, den Text wie einen Steinbruch nutzen, und die Teile aufgreifen, die passen.

Notwendig ist eine tiefergehende Diskussion innerhalb der antiautoritären Linken über die maßlose Unterordnung erheblicher Teile der Gesellschaft unter staatliche Autorität bis hin zum DenunziantInnentum denen gegenüber, die das Problem weiterhin in diesem Staat sahen und seine Autorität infrage stellten und stellen. Der weitere Umbau dieses Staates hin zu einem post-demokratischen Überwachungsstaat wurde dabei willentlich nicht nur in Kauf genommen, sondern mit Beifall bedacht, absurderweise selbst von Gruppen, die sich nach eigenem Bekunden als antiautoritär links begreifen. Das alles macht nichts weniger als einen Neuanfang linksradikaler Bewegungspolitik notwendig, aufbauend auf einer klaren Kritik dieser 'linken' Affirmation des Obrigkeitsstaates. Vielleicht ist dies aber auch eine Chance, um sich von Gruppen, die zunehmend nur noch als Wartungsteam des herrschenden Systems agieren, indem sie die systemischen Widersprüche zu glätten versuchen, deutlich abzusetzen und radikale Alternativen neu zu formulieren. Langfristig bedarf es einer starken außerparlamentarischen BürgerInnenbewegung, die in der Lage ist, nicht nur offensiv Kritik und Widerstand gegen die Zumutungen des modernen digitalen Überwachungsstaates und des mit ihm verbundenen Digital- und Finanzkapitalismus´ zu bündeln, sondern auch Alternativen zu formulieren. Vielleicht sind die unter dem Zeichen der Seuche umgesetzten biopolitischen Zumutungen ja langfristig ein Anlass dafür; diese Texte tragen erst einmal nur ihren Anteil zur Kritik bei.


(Ada Frankiewicz) - Hannover 2021

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00 - Einleitung





Im Zuge der Seuchenpolitik im Kontext des Ausbruchs von Covid-19 (Corona) in Deutschland sind die Herrschaftsverhältnisse bei der Arbeit zu beobachten, das Räderwerk der biopolitischen Formierung der Gesellschaft und der Körper. Mit Michel Foucault wird hier Biopolitik als die auf die Bevölkerung und die Körper der Einzelnen bezogene staatliche Politik gefasst. Es mangelt bisher aber an einer kritischen Analyse aus einer antiautoritär linken Sicht. Große Teile der Linken erweisen sich als unwillig, diese Herrschaftstechniken als solche zu benennen, geschweige denn sie kritisch zu analysieren. Doch nicht nur diese sollen analysiert werden, auch die AkteurInnen der Macht, die technokratisch-bürokratischen EntscheiderInnen, agieren nicht nur und nicht einmal primär als rationale AgentInnen dieser Stufe der Kapitalakkumulation, sondern sie sind gleichzeitg Subjekte, deren Handeln auch von irrationalen Affekten, Ängsten und nicht durchschauten verdrängten Bedürfnissen bestimmt wird.

Beides will dieser Text in Angriff nehmen: die Analyse der zutage tretenden Biopolitik des Digital- und Finanzkapitalismus´ als derzeitiger Phase des Kapitalismus´ und die Analyse des Handelns der technokratisch-bürokratischen AkteurInnen in eben jenem am Beispiel der 'Infektionsschutzpolitik' unter dem Zeichen der Seuche. Das heißt, es geht hier nicht um die Detailanalyse des Sinnes einzelner Maßnahmen, sondern darum, was dies für die Subjekte bedeutet, die im Sinne Foucault nicht als von der Macht unabhängige gedacht werden. Zudem geht es um die Analyse, welche aktuellen Entwicklungsprozesse diese Biopolitik befördert und aus welchen sie hervorgeht. Und darum, warum gerade diese und nicht andere Maßnahmen ergriffen wurden, weshalb wer wie agiert hat, welches Menschenbild und Politikverständnis sich hier zeigt, was das mit der Gesellschaft und den Einzelnen macht und wessen Interessen dies dient. Dabei wird Herrschaft und Machtpolitik nicht als etwas begriffen, was einer zentralen Steuerung unterliegt, sondern als etwas, das von einem Netzwerk an Akteursknoten mit viel Macht (politische VertreterInnen, Verwaltung, Medien, unterschiedliche Kapitalfraktionen usw.), und einer Vielzahl an AkteurInnen mit nur geringeren Steuerungsmöglichkeiten in der Interaktion bestimmt wird. Die AkteurInnen selbst sind dabei sowohl Treibende, als auch Getriebene.

Wie in der Einleitung zum gesamten Buch dargestellt, ist der Standpunkt, von dem aus diese Kritik erfolgt, ein durch anarchistische Ideen bestimmter Blick. Dieser Text ist eine Streitschrift für das unkontrollierte Leben und positioniert sich klar gegen jedweden Gesundheitstotalitarismus. Als anarchistische Streitschrift versucht der Text dabei gar nicht, objektive Wahrheit zu verkünden, sondern soll den Diskursraum erweitern, das Denken in Bewegung bringen und den LeserInnen neue Perspektiven erschließen. Das Denken nimmt er den LeserInnen gerade nicht ab, das müssen sie weiterhin selbst tun.

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01 - Virus, Virus

- Ausgangspunkte der Kritik eines Ausnahmezustands -


Ausgangspunkte für diesen Text waren und sind vier Überraschungsmomente, die bereits Anfang 2020 auftraten, sich seitdem aber nur verstärkt haben:

1) – Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits seit mehr als einem Jahrzehnt detaillierte Studien zur Möglichkeit und Gefahr eines solchen Seuchenausbruchs und den notwendigen Vorsorgemaßnahmen. ExpertInnen und Politik haben detaillierte Planungen dazu erarbeitet. Nichts davon wurde umgesetzt.

2) – Statt die Verantwortlichen dieses Systemversagens zu benennen und zur Verantwortung zu ziehen, wurde eben jenen für die Krise wesentlich verantwortlichen ExpertInnen (RKI – Robert Koch Institut) und PolitikerInnen (Bundesregierung und Landesregierungen) eine besondere Fähigkeit zur Lösung der Krise zugesprochen, es wurde ihnen gar die überlegene Moral angedichtet, und es gab praktisch keine Kritik daran. Ausdrücklich ist hier herausgehoben das RKI als hauptverantwortlich zu benennen, das die in der Bundesrepublik zuständige Fachinstitution auf Bundesebene ist: Trotz des Wissens um das Problem wurden von dieser Seite nicht die Alarmglocken geläutet. Zwar wurden Studien erstellt, diese aber trotz Nichtbeachtung durch die Politik vom RKI nicht weiter öffentlich thematisiert. Offensichtlich wurde die Lobbyarbeit für diverse Sonderinteressen (Pharmaindustrie, kapitalstarke AkteurInnen der Krankenbewirtschaftung u. a.), denen sich viele Mitglieder von Entscheidungsgremien aufgrund verschiedener Interessenüberschneidungen verpflichtet fühlen, für wichtiger erachtet.

3) – Als Reaktion auf die Gefahr durch Covid-19 wurden nicht einzelne Maßnahmen in demokratischen Abwägungsprozessen diskutiert, um Nutzen und Schaden gegeneinander abzuwägen, sondern die demokratischen Entscheidungsprozesse weitgehend außer Kraft gesetzt und mit Sondergesetzen regiert, die weite Teile von Grundrechten ohne differenzierte Begründung außer Kraft setzten – unter Inkaufnahme schwerster Schäden für Freiheit, Würde und Leben der Menschen. Statt dies zu kritisieren klatschten weite Teile der Medien und der größte Teil der sich selbst als kritisch verstehenden MittelschichtsakteurInnen Beifall und forderten eher im Gegenteil, ein noch härteres Außerkraftsetzen von Grundrechten und insbesondere auch ein hartes Vorgehen gegen die wenigen kritischen Stimmen.

4) – Auch in den Gruppen, die sich selbst der antiautoritären Linken zurechnen, gab es nur vereinzelt kritische Stimmen. Selbst ein Teil AnarchistInnen verwandelte sich in AnhängerInnen von Angela Merkel und ihrer Politik; diese Merkel-AnarchistInnen kritisierten dann mit besonderem Eifer, bevorzugt mit dem Faschismusvorwurf, die antiautoritären Linken, die sich weiterhin staatskritisch äußerten.

Wie konnte es dazu kommen? Um das zu begreifen, nutzt dieser Text, wie in der Einleitung ausgeführt, das Analysekonzept der Biopolitik und weitere analytische Konzepte der linken Technikkritik, außerdem das Konzept der 'kreativen Zerstörung' der Wirtschaftstheorie Schumpeters und poststrukturalistische Theorieansätze sowie Ansätze der kritischen Psychologie.

Zuerst aber zu den Fakten bezüglich Covid-19, die – und dies ist hier ausdrücklich zu betonen – bereits Anfang 2020 bekannt waren. Belastbare Zahlen lieferte zuerst das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess. Da der Virus sich hier unter großen Teilen der Passagiere weitgehend ungehindert verbreiten konnte und Passagiere und Besatzung zwangsweise an Bord gehalten wurden, lieferte der Erkrankungsverlauf belastbare Daten. Von den Passagieren im Alter von ca. 60 bis ca. 80 Jahren erkrankten etwa ein Drittel, nur ein kleinerer Anteil davon schwer (ca. 10 % bezogen auf die Gruppe der Erkrankten). Auf die Gesamtgruppe bezogen verstarben unter 1 % (ca. 2 % bezogen auf die Gruppe der Erkrankten). Dies galt unter annähernd optimaler medizinischer Versorgung der Erkrankten. In der Gruppe der Besatzung mit wesentlich niedrigerem Altersdurchschnitt gab es kaum ernste Krankheitsverläufe und erheblich weniger Ansteckungen. Eine weitere wichtige Information gab es bereits sehr früh, nämlich Anfang 2020, durch eine unbemerkte und unbeschränkte Ausbreitung des Virus in einem Pflegeheim für schwere Pflegefälle im Staat Washington, ca. 30 % der Gepflegten kamen ums Leben. Grob umgerechnet hätte eine uneingeschränkte Virusverbreitung in Deutschland also real die Gefahr bedeutet, dass in der Gruppe der noch halbwegs gesunden über 60-jährigen (Schätzung mit ca. 20 Millionen) bis zu 200.000 Menschen vom Tode bedroht waren, und in der Gruppe der Schwerstpflegefälle (Schätzung mit ca. 1 Millionen) noch einmal 300.000, insgesamt also ca. 500.000 Menschen. Dies hätte außerdem eine wesentlich höhere Zahl an IntensivpatientInnen bedeutet und mit Sicherheit zum Zusammenbruch der Versorgung und weiteren Toten geführt. Gleichzeitig war aber klar, dass in anderen Altersgruppen (bis auf wenige RisikopatientInnen) das Risiko minimal und nicht höher als andere Lebensrisiken (Verkehr, Selbstmord u. a.) war. Dies ist als grobe Abschätzung gedacht, um zu fassen, was Anfang 2020 bekannt war. Es geht nicht um genaue Zahlen, real ist die Anzahl der Menschen über 60 leicht anders, für eine Abschätzung reichen diese Zahlen aber, um die Größenordnung zu erfassen, welche zu dem Zeitpunkt aufgrund der Datenlage als Risiko in Erscheinung trat. Das heißt, es war klar, dass die Regierenden handeln mussten, gleichzeitig war aber genauso durch Fakten belegt klar, dass große Teile der Bevölkerung nur sehr geringen Risiken ausgesetzt waren. Bestätigt wurden diese Aussagen dann noch einmal im April durch die Statistiken über die an Covid-19 Verstorbenen in Italien (1,1 % der Verstorbenen war unter 50 Jahren / 85,6 % der Verstorbenen waren über 70 Jahre alt gewesen / 48 % hatten vorher bereits parallel drei andere schwere Erkrankungen). Unterschiedlich seriöse Studien kamen zu dem Zeitpunkt zu einer Mortalitätsabschätzung zwischen 0,2 % und 0,6 % bezogen auf Erkrankte. Inzwischen wurden diese Aussagen mehrfach bestätigt. Es war außerdem schon im Frühjahr 2020 klar, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Übertragung über Oberflächen (z. B. Bargeld) bei der Verbreitung keine Rolle spielt, dass Übertragungen im Außenraum selten sind, dass Kinder bei der Weiterverbreitung nur eine nachgeordnete Rolle spielen, dass Masken in Innenräumen, falls richtig genutzt, die Ausbreitung reduzieren können und dass zentrale Quellen der Ausbreitung die Partyszene, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Veranstaltungen in Innenräumen mit größeren Menschenmengen waren. Hierfür mussten nur die Erfahrungen insbesondere aus Japan und den USA betrachtet werden.

Bezogen auf Masken ist dabei aber zu beachten, dass ihre Wirkung von der Art der Maske und der Art und Weise abhängt, wie sie genutzt wird. Für die reale Anwendung zeigen Untersuchungen, dass das Tragen von Masken in Innenräumen das Risiko, andere anzustecken, im Vergleich zu NichtmaskenträgerInnen nur um ca. zwei Drittel reduziert. Für einfache Stoffmasken gilt sogar, dass das Risiko, andere anzustecken, im Vergleich zu NichtmaskenträgerInnen nur um die Hälfte oder auch gar nicht (wirkungslos) reduziert wird. Daraus folgt, dass vereinzelte NichtmaskenträgerInnen die Gefahr für die Gesamtheit kaum erhöhen. Wenn z. B. bei einem Zusammentreffen im Innenraum von einer Gruppe von 101 Personen 100 Masken tragen und 1 Person keine Maske trägt, erhöht dies das Ansteckungsrisiko für die anderen um maximal 2 %.


Ein Grund sich aufzuregen ist es also nicht, wenn einzelne Personen keine Maske tragen. Und das Argument, dass dann ja 'alle' keine Masken mehr tragen würden, ist in einer Demokratie höchstens ein Argument, es dann doch auch zu unterlassen, wenn 'alle' es unsinnig finden.

Diese Fakten waren, wie gesagt, bereits im Frühjahr 2020 klar. Sie hätten eigentlich die Grundlage der Diskussion über angemessene Maßnahmen liefern müssen, um dann im Fall jeder Einzelmaßnahme Nutzen und Schaden gegeneinander abzuwägen. Dies fand aber in der Bundesrepublik Deutschland nicht statt, vielmehr wurde mit völlig übertriebenen Zahlen insbesondere auch bei jüngeren Altersgruppen Panik erzeugt und es wurden damit völlig falsche Handlungsimperative gesetzt. Zwei Staaten in der westlichen Hemisphäre handelten allerdings entsprechend dieser Datenlage, nämlich Schweden und Florida (In den USA liegt die Gesetzgebungsbefugnis für diesen Bereich bei den Teilstaaten). Insbesondere die Betrachtung Floridas im Vergleich zu Michigan ist dabei aufschlussreich: Beide Staaten der USA haben Großstadtregionen mit einem Großteil der Bevölkerung (Detroit/Miami). Florida hat nach einem extrem kurzem Lockdown, um die Organisation der Schutzinfrastruktur zu organisieren, sehr schnell wieder Einschränkungen zurückgenommen, gleichzeitig aber bereits im Frühjahr 2020 eine gezielte Struktur zum Schutz von Alteneinrichtungen aufgebaut mit engmaschigen Testregimen, der Staat gilt als SeniorInnenparadies der USA. Michigan ist einer der Staaten der USA mit den härtesten und langfristigsten Lockdown-Maßnahmen. Trotzdem steht Florida, was die Anzahl der Toten durch Covid-19 im Verhältnis zur Bevölkerung angeht, besser da als Michigan.

Nun war es Anfang 2020 sicher schwierig, bezüglich einzelner Maßnahmen belastbare Aussagen zu tätigen, dies galt nicht nur bezüglich ihres Sinns zur Verhinderung von Ansteckungen, sondern auch für die Abschätzung des durch sie zu erwartenden Schadens. Was die starken Lebenseinschränkungen insbesondere bezogen auf Kinder und Jugendliche, aber auch auf alte Menschen, langfristig an negativen Folgen haben werden, Erhöhung der Erkrankungsrate an Depressionen, erhöhter Drogenkonsum, erhöhter Anteil an Menschen mit Übergewicht u. a. ist zumindest zahlenmäßig nur schwer abzuschätzen und hängt natürlich auch erheblich vom Sozialsystem des Staates und der Nachsorge ab. Für die jüngeren Altersgruppen in den USA ist aber schon jetzt sicher feststellbar, dass die Folgen des Lockdown erheblich tödlicher als Covid-19 sein werden, aufgrund steigender Selbstmordraten, Störungen des Essverhaltens, mangelnder Bewegung, Unterbrechung von Bildungswegen und Verarmung u. a. Für die USA insgesamt hatten die Lockdown-Maßnahmen bereits im November 2020 100.000 zusätzliche Todesfälle zur Folge. Insgesamt wurde eine Übersterblichkeit von über 300.000 festgestellt, davon gingen auf Covid-19 etwas mehr als 200.000 zurück. Da es 2020 keine andere Großkatastrophe und keinen Atombombenabwurf in den USA gab, ist der Rest von 100.000 notwendigerweise auf die Maßnahmen zum 'Infektionsschutz' zurückzuführen.

Nun ist die Sachlage in Deutschland nicht mit den USA zu vergleichen, da hier zum Beispiel die Krankenversicherung nicht an den Arbeitsplatz gebunden ist, und es ist durchaus möglich, dass die schärferen 'Infektionsschutzmaßnahmen' auch im Vergleich zu Schweden, ein mit Deutschland eher vergleichbarer Staat, mehr Nutzen als Schaden bewirkt haben. In Schweden wird die Gesamtzahl der Toten durch Covid-19 letztendlich vermutlich ca. das 1,3-fache der Zahl der Toten in Deutschland pro Kopf der Bevölkerung ausmachen. Die Fachbehörden in Schweden haben ihre liberaleren Maßnahmen und die Inkaufnahme höherer Sterbezahlen aber von vornherein mit den negativen Langfristfolgen der Maßnahmen insbesondere für die sozial schwächsten Gruppen in der Gesellschaft begründet, und auch dies lässt sich durchaus gut argumentieren. Welche Politik sich auf die Gesundheit bezogen langfristig als besser erweisen wird, lässt sich nur schwer definitiv einschätzen. Und alle, die meinen, Schweden hätte unverantwortlich gehandelt, sollten vielleicht einmal die realen Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Deutschland und Schweden betrachten: Hier steht Schweden auch unter Berücksichtigung der Covid-19-Folgen erheblich besser da als Deutschland. Das hieße dann ja wohl im Umkehrschluss, dass die deutsche Politik schon seit Jahren unverantwortlich handelt. Außerdem lässt sich auch für Deutschland relativ sicher abschätzen, dass die 'Infektionsschutzmaßnahmen' den jüngeren Altersgruppen mehr Schaden zugefügt als sie ihnen genutzt haben, selbst wenn nur die Gesundheitsfolgen abgeschätzt werden. Auch der Lockdown tötet, wer das bestreitet, verhält sich genauso irrational wie die Aluhüte, welche die Existenz des Virus' bestreiten. Man hat also bewusst eine Verkürzung der Lebenserwartung von Kindern und Jugendlichen, z. B. durch Depression, Drogen, Bewegungsmangel u. a. in Kauf genommen, um Ältere zu schützen. Das ist nicht pauschal verwerflich, die Politik muss alltäglich Entscheidungen treffen, die einem Teil der Menschen nutzen anderen Menschen jedoch schaden. Und zumindest für Deutschland gilt bei den meisten Maßnahmen sicher, dass sehr viel mehr alte Menschen geschützt wurden, als junge Menschen gefährdet. Ein Grund, Maßnahmen offen zu diskutieren und kontrovers abzuwägen, sollte diese Ambivalenz der Maßnahmen aber allemal sein.

Die Argumentation greift in dieser Art jedoch strukturell bereits zu kurz. Das Handeln auf den einzigen Zweck des Überlebens auszurichten, ist in sich selbst unmenschlich und ignoriert die Menschenwürde, welche aus mehr als dem nackten Leben besteht. Sich zum Beispiel für ein kürzeres aber selbstbestimmtes Leben zu entscheiden, statt eines langen fremdbestimmten, ist legitim. Was für welchen Zweck verhältnismäßige Risiken sind, ist nicht allgemein objektiv bestimmbar, da es hier um Werturteile, um Würde und Sinn geht, die nur jede und jeder für sich bestimmen kann. Und jede und jeder setzt dabei auch seine Mitmenschen Risiken aus, jede AutofahrerIn geht bei jeder Fahrt das Risiko ein, einen Menschen zu töten, dies kann selbst die umsichtigste Fahrweise nicht sicher ausschließen. Fast jede meiner Handlung in einer komplexen Gesellschaft kann anderen ungewollt Schaden zufügen. Rücksichtnahme ist zu Recht einzufordern, aber Rücksichtnahme ist ein Abwägungsprozess und sollte außerdem auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich nehme Rücksicht darauf, was anderen wichtig ist und respektiere ihre Freiheiten, und diese nehmen Rücksicht darauf, was mir wichtig ist, und respektieren meine Freiheiten. Jede demokratische politische Entscheidung sollte die unterschiedlichen Einstellungen und Wertsetzungen der Menschen in einer Gesellschaft berücksichtigen und Kompromisse suchen, dies gilt nicht nur für AutofahrerInnen und FußgängerInnen.

Insofern ist nicht die Politik, sind nicht die konkreten Maßnahmen der zentrale Skandal im Kontext des Virus', sondern ihr Zustandekommen, die weitgehende Unterdrückung von Abwägungsprozessen und des demokratischen Streites und die Ausschaltung normaler demokratischer Prozesse. Es wurde gar nicht versucht, Kompromisse auszuhandeln. Dies ist erklärungsbedürftig: Wieso hat hier wer wie gehandelt? Wessen Interessen wurden primär bedient? Wie konnte dies so passieren, unter aktiver Mitwirkung von Menschen, die sich selbst für DemokratInnen halten, ja, sich gerade denen gegenüber, die demokratische Prozesse und BürgerInnenrechte einfordern, als die einzig wahren DemokratInnen aufspielen. Die Suche nach einer Antwort auf diese Fragen ist Thema des Textes.

Im Abschnitt 'Virus Diskurs Macht Propaganda' wird versucht, zu begreifen, welches Selbstverständnis und welche Strukturen zur weitgehenden Selbstgleichschaltung der Medien und ihrem Ausfall als vierter Instanz geführt haben.

Der Abschnitt 'Der Virus als perverse Wunschmaschine' zeigt auf, dass viele Entscheidungen und Politiken gerade nicht auf rationalen Abwägungsprozessen basieren, sondern aufgrund psychosozialer Prozesse zustande kommen, denen unbewusste autoritäre Subjektstrukturen und Verdrängungsprozesse zugrunde liegen.

Darauf aufbauend geht es im folgenden Abschnitt 'Das neue Subjektdispositiv' um die Konsequenzen der mit dem Virus verknüpften Biopolitik für das Subjekt, das heißt, um die Art und Weise, wie das Selbstverständnis dessen verändert wird, was einen Menschen ausmacht, und wie die Selbstbestimmung unterminiert wird.

Unter Rückgriff auf Schumpeter und seinen Begriff der kreativen Zerstörung wird im Abschnitt 'Die digitale Enteignung' diskutiert, was die weitgehende Auslieferung der Gesellschaft an die Kapitalfraktion des Digital- und Finanzkapitalismus´ im Zuge der Politiken unter der Bedrohungslage real bedeutet, bzw. warum auf politische Gestaltungsmacht zu verzichten unverantwortlich und die Feier gerade dieser KapitalakteurInnen im Rahmen der Epidemie so fragwürdig ist.

In einem eigenen Abschnitt 'Naturwissenschaft als Religion' wird dann das Wiederaufleben technokratischer Lösungsmodelle und unkritischer naturwissenschaftlicher Aussagen ins Verhältnis gesetzt zu dem, was die technik- und medizinkritische Linke seit den 1970-er Jahren bereits an Kritik erarbeitet hatte und was an kritischem Wissen verloren zu gehen droht.

Einer Erklärung bedarf auch 'Die Kultur der Lüge', zu der zunehmend auch erhebliche Teile der 'antiautoritären Linken' (oder sich dieser zumindest selbst so zuordnende) gehören. Wie kommt es bei diesen zur Aufgabe ihrer Positionen und zu ihrer Selbstunterordnung unter die Staatsräson, ohne dass sie es überhaupt wahrnehmen? Ein Handeln, das Erinnerungen an die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegskrediten zu Beginn des 1. Weltkriegs weckt.

Viele Diskussionen erwecken den Eindruck, als würde der totalitäre Staat besser mit dem Infektionsschutz zurechtkommen. Der totalitäre Staat ist aber nicht zu trennen von seinen totalitären Institutionen, dem Gefängnis, dem Krankenhaus/Pflegeheim, dem Arbeitslager u. a. Der Abschnitt 'Krankheitssouveränität. Das nicht eingestandene Scheitern der totalen Institutionen, Kritik der Verhältnisse und alternative Handlungsansätze' verweist darauf, dass gerade diese im Zentrum der Verbreitung stehen. Die Kritik wird als Anlass zur Formulierung von Alternativen genutzt, für einen positiven Ausblick zum Abschluss des Textes. Alternativen sind vorstellbar, und warum sollte es nicht möglich sein, von einer Kritik der Verhältnisse zur 'Krankheitssouveränität' als alternativem Ziel zu kommen?

Abgeschlossen werden die Hauptabschnitte des Textes jeweils durch kurze Abschnitte, mit Rekursen auf im Kontext des Diskutierten interessante Autoren (Peter Brückner, Ivan Illich, Ludwik Fleck,...) am Schluss des Textes in einer Liste noch einmal aufgeführt und durch Hinweise auf weitere AutorInnen ergänzt. Die ausgewählten zitierten und ergänzten Textpassagen und die Liste am Schluss des Textes sind dabei als Anregung gedacht, sich die Texte selbst zu besorgen und weiter zu lesen, bzw. diese AutorInnen und ihre Texte erneut zur Hand zu nehmen. Viele der sich unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes unter Covid-19 offen zeigenden politischen Entwicklungen basieren auf längerfristig wirksamen Strukturen. Ein Problem linker Theorie ist, dass bereits Gewusstes scheinbar immer wieder vergessen wird. Im Fall der 'Infektionsschutzpolitik' betrifft dies z. B. die Rolle der Medizin als Herrschaftsinstitution und psychologische Strukturen der Herrschaftsdurchsetzung. Die genannten Texte sind dafür ein gutes Gegenmittel, trotz ihrer Irrtümer beinhalten sie nach wie vor zentrale wichtige Erkenntnisse. Es ist sinnvoll, mit alten Texten ist so umzugehen wie mit einem vollen Kühlschrank, und sich das herauszusuchen, was zum Kochen taugt, statt einfach den gesamten Kühlschrankinhalt in den Müll zu entsorgen und eine Fertigpizza in einer der gerade angesagten Varianten zu ordern.

Noch einmal: In einer Demokratie ist nicht nur entscheidend, welche Politik durchgesetzt wird, sondern auch wie und wie weit dabei Alternativen zur Sprache kamen. Denn der Versuch, Alternativen zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Diskurs zu verbannen, sie zu stigmatisieren, ist immer der Versuch der dauerhaften Gleichschaltung der Gesellschaft.

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02 - Virus Diskurs Macht Propaganda

Ein Versuch den weitgehenden Ausfall der Medien in ihrer Funktion als 4. Gewalt zu begreifen -




Die Epidemie hat vergleichbar anderen gesellschaftlichen Bereichen auch im Bereich der Presse- und Medienlandschaft zur Zuspitzung bereits vorher bestehender postdemokratischer Strukturen und Argumentationen geführt.

Die Vierte Gewalt begreift sich zunehmend als PR- & Beratungsabteilung der Herrschenden und nicht als kritische Instanz. Den Schreibenden mangelt es an Distanzsetzung gegenüber Regierenden und MachtakteurInnen aus Wirtschaft und Wissenschaft, begreifen sie sich doch als Teil dieser Schicht, die für sich in Anspruch nimmt, zu wissen, was richtig ist, welche Politik umzusetzen ist, und reklamieren entsprechend das Recht, Kritik von außerhalb zu ignorieren, öffentliche Diskurse durch Manipulation zum Beispiel von Suchmaschinenrankings oder durch Shadowbanning zu steuern und, wo als notwendig erachtet, abweichende Aussagen zu unterdrücken. Dies ist dann im Selbstbegriff dieser Presse und Medien keine Zensur, sondern notwendige Diskurshygiene, um Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Die Bevölkerung wird dabei nicht einmal mehr dem eigenen Anspruch nach als Souverän gesehen, von dem in der Demokratie alle Entscheidungsgewalt auszugehen hat, sondern als Masse, die der Lenkung bedarf. Würde die Bevölkerung als Souverän ernst genommen, würde versucht werden, das Niveau der Medienkompetenz zu erhöhen, die Fähigkeit, Aussagen kritisch eigenständig zu bewerten, dies ist aber offensichtlich gerade nicht gewollt. JournalistInnen und andere MedienakteurInnen agieren nicht als InformationsbrokerInnen, sondern als SozialpädagogInnen. Demokratie wird nicht als Herrschaft durch die Bevölkerung begriffen, sondern als gegenüber Diktaturen intelligenterer Form moderner Herrschaft durch eine Mischung aus Marketing, Nudging und Diskursregulierung (und nur dort, wo dies nicht hilft, Zwang).

Im Kontext Corona wird dies beispielsweise an der hervorgehobenen Berichterstattung über schwere Krankheitsverläufe in den jüngeren Bevölkerungsgruppen deutlich, obwohl diese extrem selten sind und das Risiko, an Covid-19 zu sterben, im Verhältnis zu anderen Lebensrisiken für diese nicht hervorsticht. Die hervorgehobene Berichterstattung der Presse über die im Verhältnis wenigen Fälle schwerer Erkrankungen bei jüngeren Bevölkerungsgruppen und Kindern ist vergleichbar unseriös, wie die hervorgehobene Berichterstattung über Einzelfälle von Gewaltkriminalität von Flüchtlingen, die im Verhältnis zur Gesamtzahl der hier lebenden Flüchtlinge nicht wesentlich von der Kriminalität vergleichbarer Alters- und Geschlechtsgruppen abweicht. Das Hervorheben atypischer Fälle, wie dem eines Kindes, das an Corona verstorben ist, wurde von MedienakteurInnen teils selbst im Sinne des oben benannten Selbstverständnisses eines Erziehungsauftrages begründet. So wird und wurde der Fakt, dass viele Jugendliche ihr Sterberisiko um mehr als den Faktor 100 überschätzen, nicht als Problem betrachtet, sondern als Erfolg, da dadurch sichergestellt werden würde, dass diese zu Hause blieben.

Auch die Zahlen- und Bildpräsentationen im Panikmodus, die in ihrer Art und Weise Mittel der Berichterstattung und selektiven Bildverwendung nutzt, die sich nicht zufällig auch in vergleichbarer ideologischer Propaganda zum Beispiel zur Bevölkerungsentwicklung finden, wurde offensiv von MedienvertreterInnen damit begründet, dass die Medien die Aufgabe hätten, die Bevölkerung für die Gefahr zu sensibilisieren. Die gleiche Begründung könnten aber auch die nahe an rassistischen Weltbildern agierenden, PropagandistInnen einer "Überbevölkerung" für sich in Anspruch nehmen, entsprechend ihrer politischen Überzeugung. Die Darstellung von wachsenden Zahlen Toter durch Corona ist aber ebenso aussagelos wie die zunehmenden Zahlen der Weltbevölkerung ohne entsprechende Kontextualisierung, die z. B. aufweist, dass in Schweden trotz schwedischer Corona-Politik die Übersterblichkeit nur minimal gestiegen ist und die Lebenserwartung in Schweden erheblich über der in Deutschland liegt, oder die im Fall des Bevölkerungswachstums darauf verweist, dass es vor allem die Industrieländer mit abnehmender Bevölkerung sind, welche durch ihren Konsum einen Großteil der Umweltbelastungen und des Ressourcenverbrauchs zu verantworten haben (auch in China, da ein Großteil der Produkte dort für den europäischen oder US-amerikanischen Markt produziert wird). Die kontextlose Zahlenpräsentation der Corona-Toten hat genau wie das Bild der tickenden Bevölkerungsbombe wenig mit Berichterstattung zu tun, das gleiche gilt für die bewusste Herausstellung angsterzeugender Bilder, sei es von Armut in afrikanischen Ländern oder von Intensivstationen in Deutschland. KrankenhausmitarbeiterInnen verweisen zu Recht darauf, dass in vielen Krankenhäuser schon vor Corona aufgrund von Personalmangel und irrealer Fallpauschalen im Notstandsmodus gearbeitet wurde. Genau an diesem Punkt wurde aber auch im Laufe eines Jahres nichts verändert. Und einem der für die Fallpauschalen hauptverantwortlichen 'Gesundheitsexperten' wird in denselben Medien sogar besonderes moralisches Kapital zugesprochen, dieser Fall ist nicht einmal die Ausnahme. Nicht zufällig fangen die Auftritte dieser 'ExpertInnen' an, Predigten zu gleichen, verstehen sich diese Corona-Priester und -Priesterinnen doch als VerkünderInnen der Wahrheit. Die Medien sehen das Problem aber nicht darin, dass sich hier ein Blick auf die Bevölkerung zeigt, der diese als UntertanInnen anspricht, sondern darin, dass Teile dieser Bevölkerung 'falschen' ProphetInnen folgen oder gar zu Coronaatheismus neigen. Vergessen ist, dass es richtige ProphetInnen ebensowenig wie die gute KaiserIn gibt. Doch da sich die JournalistInnen auf der Entscheidungsebene der sich selbst als Qualitätsmedien begreifenden Öffentlichkeit schon länger fast ausschließlich im selben Denkkollektiv wie die technokratisch-bürokratisch HerrschaftsakteurInnen bewegen, werden sie mit dieser Kritik vermutlich nichts anfangen können, bewegt sie sich doch außerhalb des Rahmens des in diesem Denkkollektiv und diesem Denkstil sinnvoll Äußerbaren. Nicht, dass in einer Demokratie nur bestimmten Menschen die Sprechposition zugebilligt wird und die Masse auf die ZuhörerInnenposition verwiesen wurde, wurde als Problem betrachtet, sondern, dass einige dieser ZuhörerInnen sich erdreisteten, zu widersprechen.

Das Problem der Emotionalisierung von Diskursen mit der Folge von kurzfristigen Kampagnenfokussierungen, der Förderung verkürzter technokratischer Lösungsansätze, der Ausblendung komplexer gesellschaftlicher Folgen dieser Lösungen und dem Mangel an Thematisierung der den Problemen zugrunde liegen-den Gesellschaftsstrukturen, die damit gar nicht mehr in den Fokus der Kritik geraten, ist dabei sehr viel älter als die Pandemie. Durch die immer weitergehende Verlagerung der Diskurse von Schrift- zu Bild- und Tonmedien spitzt sich dies in der internetbasierten Kommunikation jedoch noch einmal zu. Deutlich zu sehen war dies im Corona-Diskurs am Beispiel der Berichterstattung über Indien. Ein Land, in dem viele Menschen in erbärmlichen Verhältnissen leben und sterben, dies galt aber schon lange vor der Pandemie. Obwohl in Indien im Vergleich zur Bevölkerungsgröße die Zahl der Toten durch Corona auch im Sommer 2021 erheblich unterhalb der Zahl der Toten in Deutschland bezogen auf die Gesamtbevölkerung lag, wurde durch die Bildberichterstattung aus Indien und den Fokus auf Tod und Elend ein ganz anderer Eindruck erzeugt. Indien hatte Anfang August bezogen auf eine Bevölkerung von 1.400 Millionen ca. 424.000 Tote zu beklagen, Deutschland zum gleichen Zeitpunkt bezogen auf eine Bevölkerung von 80 Millionen über 92.000 Tote. Selbst unter der Annahme, dass die realen indischen Zahlen erheblich höher sind als die angegebenen (Schätzungen aufgrund der Anzahl der Toten bzw. der Auslastung der Krematorien gingen von bis zu doppelt so hohen Zahlen aus), ist es unwahrscheinlich, dass in Indien mehr Menschen bezogen auf die Bevölkerung verstorben sind als in Deutschland. Der deutschen Todesrate Anfang August würden 1.600.000 Tote in Indien entsprechen. Trotzdem entstand in den Medien das Narrativ von Indien als Beispiel dafür, was passiert, wenn die Pandemie außer Kontrolle gerät. Dabei waren die Bilder des elenden Sterbens in der Pandemie nur Signifikanten einer darunterliegenden, sehr viel tiefer gehenden Problematik der Verelendung und Ausbeutung, die in der Regel aber nicht Thema war, sondern die Pandemiepolitik. Notwendig und rational wäre stattdessen eine differenzierte Thematisierung der globalen und regionalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen gewesen, die zu derartigen Elends- und Armutsverhältnissen wie in Indien führen, jedenfalls dann, wenn es den BerichterstatterInnen wirklich darum gegangen wäre, zur Lösung beizutragen. Die Berichterstattung reproduzierte auf diese Weise hingegen lediglich den rassistisch und postkolonial geprägten Blick auf das ehemalige Kolonialgebiet und bediente das Stereotyp: 'Die sind ja ohne die EuropäerInnen gar nicht in der Lage, einen funktionalen Staat zu organisieren'.

Die Steuerung der Diskurse findet dabei, wie bereits ausgeführt, jenseits der Kontrolle wesentlicher Mainstream-Medien in der Regel nicht mehr mit dem Brachialmittel der direkten Zensur statt, sondern in der modernen internetgestützten Kommunikation durch Flussteuerung, durch die Manipulation, was wo wie stark sichtbar wird und wer was zu sehen bekommt. Und dort wo direkte Zensur ausgeübt wird, wird sie auf extralegal agierende PrivatakteurInnen ausgelagert (Facebook, YouTube u. a.), als wäre dies besser. Eine Zensurgesetzgebung würde zumindest gerichtliche Einsprüche ermöglichen und Rechtssicherheit bewirken, sie würde aber auch verdeutlichen, dass es hier eben um politische Zensur geht. Im neuen Mediendiskurs ist dies ja aber gerade keine Zensur, werden doch nur solche politischen Aussagen und Meinungen ausgegrenzt, die eigentlich gar keine sind, sondern Unaussagen, Verschwörungstheorien, Aussagen, die sich außerhalb des das Sagbare definierenden Diskurses, eben des Gruppendenkens der Verantwortlichen für diese Zensur, bewegen.

Teile dieses Agierens der Medien sind dabei nicht neu. So sprach der Sozialpsychologe Peter Brückner zum Beispiel in den 1970-er Jahren angesichts der Engführung des öffentlichen Diskurses im Kontext der Auseinandersetzung mit dem RAF-Terrorismus, dem 'Kalten Herbst', von der Mehrheit als Sekte. Ähnlich wie im Fall von Corona führte hier eine Situation, die vergleichbar der Epidemie in den Mainstream-Medien als nationaler Notstand gefasst wurde, zur weitgehenden Selbstgleichschaltung dieser und zu Hetzkampagnen gegen die KritikerInnen und die Minderheit der Gesellschaft, die für differenzierte Blickwinkel eintrat. Im Gegensatz zu 1970 ist der Kern des neuen postdemokratischen Selbstverständnisses der JournalistInnen im Fall von Corona aber nicht primär die Staatsräson. Die neuen postdemokratischen Illiberalen scheinen ihre eigenen 'Wahrheiten' wirklich zu glauben, sie halten ihre eigene enggeführte unterkomplexe Sichtweise der Realität für die einzig mögliche Wahrnehmung dieser und deshalb für moralisch so überlegen, dass damit fast jede Form von zum Schweigenbringen der anderen legitim erscheint, ja geradezu zur moralischen Pflicht wird. Sie sind zusammen mit anderen MachtakteurInnen Teil einer sich moralisch überlegen wähnenden Mittelschicht moralischer DünkelbürgerInnen, die sich in ihrer Bigotterie für die im Gegensatz zum Rest der Gesellschaft Wissenden, die Vernünftigen halten, unfähig, andere Standpunkte als gleichberechtigt zuzulassen. Diese Abwertung der Stimme anderer als geringer, beziehungsweise als gar nicht zu beachtend, ist der Kern des modernen postdemokratischen Bewusstseins. Sicher gab es auch in den 1970-er Jahren sich selbst als Eliten verstehende Machtzirkel, die der Bevölkerung ähnlich abwertend gegenübergestanden haben. Moralisch hätten jene aber nicht argumentiert.

Diese antidemokratische Grundhaltung der neuen illiberalen Mitte zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der Ansicht, dass die 'normalen' Menschen, die allgemeine Bevölkerung, vor bestimmten Aussagen geschützt werden muss, vor den als solche von dieser Schicht definierten Fake News, da ihnen nicht zugetraut wird, ein eigenständiges kritischen Urteil zu fällen. Zur Beurteilung sehen sich die PostdemokratInnen als wissende Eingeweihte nur selbst in der Lage. Die Bevölkerung ist aus Sicht dieser zu dumm dafür und deshalb müssen die MittelschichtsakteurInnen, die als einzig kritisch Denkfähige über die wirkliche Wahrheit verfügen, diese durch Diskurssteuerung und Zensur gegen Kritik schützen. Das gilt selbst dort, wo ihren Aussagen ein Teil der von ihnen sonst immer hochgehaltenen Fachleute widerspricht. Fühlen sie sich doch zu dieser (nicht Lüge, sondern) in ihren Augen Vereinfachung, beziehungsweise Vereindeutigung der Fakten und der Ausblendung von widersprechenden Fakten berechtigt, ist es doch für die gute Sache, die Menschen zur Einhaltung der von ihnen zur moralischen Norm erklärten Hygieneregeln zu bringen.

Jede Gesellschaft, jede politische Praxis muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren GegnerInnen, Widerspruch und Abweichung umgeht, dies ist ein entscheidender Maßstab der Demokratie und gilt insbesondere für den Umgang mit WidersacherInnen, deren Aussagen als explizit falsch, Unsinn, zu verwerfend begriffen werden. Die Medien haben hier bezogen auf den Streit um die Corona-Politik weitgehend versagt. Statt Kritiken ernst zu nehmen und durch Argumente oder veränderte politische Maßnahmen auszuräumen, werden Menschen durch die Lächerlichmachung ihrer Person in den Widerstand getrieben. Wichtig ist den Diskursführenden in den großen Medien offensichtlich nicht Corona, sondern sich selbst gegenüber den anderen (Aluhüte/VerschwörungstheoretikerInnen) zu erhöhen, und für etwas Besseres halten zu können. Ginge es ihnen wirklich um Corona, würden sie argumentieren statt zu diffamieren. Das DünkelbürgerInnentum, das sich in den Medien von der Zeit bis hin zum Freitag austobt und die öffentlich rechtlichen Medien dominiert, wird im Diskurs über die Pandemiepolitik dem WutbürgerInnentum mit teilweiser Nähe zum AfD-Spektrum immer ähnlicher. Die Plattform telepolis.de, als eine der wenigen Plattformen, die eine Vielfalt an Meinungen im Diskurs über Covid-19 und die 'Infektionsschutzpolitik' zugelassen hat und zulässt, musste zum Beispiel inzwischen in die Diskussionsforen eingreifen, um Spamkommentare von BefürworterInnen der 'Infektionsschutzpolitik' zu Artikeln, die sich kritisch mit der 'Infektionsschutzpolitik' auseinandersetzen, zu begrenzen.

Zusammen mit den real stattfindenden Diskursmanipulationen von Twitter, Facebook, Google u. a., den sich zuspitzenden sozialen und politischen Krisenlagen und dem weitgehenden Ausfall kritischer linker Analyse führt dies dann dazu, die Menschen nur noch mehr in Richtung Verschwörungstheorie und Irrationalität zu treiben. Mangels struktureller Analysemöglichkeiten aufgrund der Tabus der Infragestellung der Seuchenpolitik im gesellschaftlichen Kontext bleibt dann nur, nach den Bösen zu suchen, nach den Schuldigen. Wobei unter den gegebenen Verhältnissen und Subjektidentitäten die Zuspitzung der Krisenlage vermutlich auch unter optimalen freien Diskursbedingungen zu Verschwörungstheorien und Irrationalität führen würde, da viele kritische Analysen von vornherein verworfen werden – da sie eine grundsätzliche Infragestellung des Systems, oder von 'Werten' wie 'Leistung', 'Konkurrenz' und Autoritäts- und Hierarchiemuster voraussetzen, die für viele der Betroffenen tabu ist, würde sie doch die Infragestellung der Selbstdefinition dieser Menschen erfordern, in einer Situation, in der diese sowieso verunsichert sind. Das Hochziehen von Mauern und der Mangel struktureller Analysemöglichkeiten verstärken diesen Effekt jedoch noch.

Es ließe sich eine Vielfalt an weiteren Fragwürdigkeiten des Umgangs der Medien mit Themen im Umfeld der Pandemie aufführen. Zumindest einige sollen hier noch kurz genannt werden. So zeigten insbesondere Teile der Berichterstattung über die Verfolgung von Menschen, welche gegen 'Infektionsschutzauflagen' verstießen, die Generalmobilmachung, in die sich viele JournalistInnen unkritisch einordneten. Wenn Tagesschauberichte über die Verfolgung von SchlittenfahrerInnen, die keine Masken trugen, an den Embeded Journalism der US-Kriegsberichterstattung erinnern, und in anderen Berichten JournalistInnen ihre Hauptfunktion darin sehen, ganz normale BürgerInnen, weil sie tanzen oder Partys feiern, an den öffentlichen Pranger zu stellen, ist der Verfall elementarer journalistischer Sorgfalt, z. B. Distanz zum Gegenstand, überdeutlich. Das grundsätzlich, wenn sie denn überhaupt zu Wort kamen, nur ExpertInnen, die dem hegemonialen Diskurs widersprachen, kritisch hinterfragt wurden, entspricht leider dem üblichen unkritischen Umgang mit Wissenschaftsaussagen. Dass aber völlig unabhängig vom realen Krankheitsgeschehen und der realen Zahl von Toten bezogen auf die Bevölkerungsgröße praktisch nur Länder, die einen harten Lockdown verweigert haben, in den Fokus der Kritik genommen wurden, obwohl die realen Pandemieverläufe hiervon weitgehend unabhängig waren, zeigt, wie weit die Entkopplung von Realität und Berichterstattung ging und geht. Dass die Sachlage sehr viel differenzierter und detaillierter analysiert werden müsste, zeigt zum Beispiel ein Vergleich der Zahlen zwischen den Staaten New York und Michigan (Demokratisch regiert mit hartem Lockdown und den mit höchsten Todeszahlen in den USA – und einer Verordnung, die Pflegeheime dazu zwang, infizierte PatientInnen aufzunehmen) und dem Staat Florida (Republikanisch – Trump nahestehend – regiert, mit minimalem, kurzem Lockdown und geringen Einschränkungen, aber einem sehr frühen systematischen Schutz von Alteneinrichtungen). Häufig wurde dies noch von einem Hypermoralismus überlagert, der implizit feststellte, dass die Rechten es ja nicht besser verdient hätten, als zu sterben. Das zumindest ein Teil dieser RechtswählerInnen – auch in Deutschland – in ähnlich prekären Beschäftigungs- und Wohnverhältnissen lebt, ebenso wie geichfalls überproportional betroffene Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte, wurde dabei geflissentlich übersehen.

Die größte Leerstelle im hegemonialen Diskurs der großen Zeitungen und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens war und ist aber die weitgehende Verharmlosung der massiven Grundrechtseinschränkungen und der Lockdown-Folgen sowie die weitgehende Ignoranz gegenüber der Außerkraftsetzung des demokratischen Fundaments der Bundesrepublik Deutschland bis hin zur Bagatellisierung und sogar zur Forderung, diese Politik noch zu radikalisieren. Zwei der Grundpfeiler der Verfassung, die aufgrund der Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus und zur Verhinderung vergleichbarer Entwicklungen in selbige aufgenommen wurden, sind die sehr herausgehobene Verankerung der Menschenwürde und die Machtteilung zwischen Bundesregierung und Ländern. Beides wurde nun im Zuge der Pandemiepolitik ohne größere Debatte zur Disposition gestellt.

Die Menschenwürde ist explizit mehr als das nackte Leben, sie beinhaltet wesentliche weitere Grundrechte, zum Beispiel die körperliche Selbstbestimmung, das Recht, medizinische Eingriffe zu verweigern, das heißt das Recht auf Krankheit, wie es das Bundesverfassungsgericht in Urteilen dargestellt hat, den Schutz der Privatsphäre und vieles andere. Jedes Gesetz zum Schutz eines der grundgesetzlich schützenswerten Güter muss Abwägungen zwischen diesen treffen. Supergrundrechte existieren nicht, dies gilt insbesondere auch für ein wie auch immer definiertes Recht auf Gesundheit. Die Medien haben sich dieser Auseinandersetzung der Abwägung zwischen Freiheitsrechten, der Angemessenheit ihrer Einschränkungen im Verhältnis zum dadurch erreichbaren Gesundheitsschutz, fast vollständig verweigert und diese Abwägung unter Instrumentalisierung emotionalisierter Bilder des Leides und des Todes sogar nicht selten diffamiert. Vergessen wurde dabei scheinbar, dass die Leibeigenschaft schon vor einigen Jahrhunderten abgeschafft wurde. Emotionalisierung ist das klassische Mittel autoritärer PopulistInnen, um ihre Politik unter Missachtung komplexer demokratischer Prozesse durchzusetzen. Wenn bezüglich des Corona-Diskurses eine besorgniserregende Entwicklung hin zum Rechtspopulismus zu beobachten ist, dann ist diese Entwicklung der Medien und der illiberalen MittelschichtsakteurInnen aus Politik und Verwaltung hin zu einem die autoritäre Entwicklungen stärkenden Populismus sicher zuerst zu nennen, haben sie doch im Gegensatz zu GegendemonstrantInnen gegen die 'Infektionsschutzpolitik' reale Macht.

Noch bedenklicher ist fast, dass auch die klare Trennung zwischen Länderzuständigkeit und Bundesregierung, eine Grundlehre aus dem NS, völlig ohne Sinn und aus reinem Aktionismus durch das 'Infektionsschutzgesetz' grundlegend destabilisiert wurde. Dabei hätten auch die Länder dasselbe für sich entscheiden können, da sie ja sowieso nicht widersprochen haben. Einen grundlegenden Verfassungsgrundsatz, nur weil einige MinisterpräsidentInnen die politische Verantwortung für ihr Handeln auf die scheidende Bundeskanzlerin abwälzen wollten, auf diese Weise zu schwächen, ist derartig politisch unverantwortlich, dass eigentlich ein Aufschrei durch die Medien hätte gehen müssen. Das Gegenteil war der Fall, den meisten JournalistInnen ging das Zerstörungswerk nicht weit genug, vielleicht auch, weil sie gar nicht mehr über ausreichende politische Kenntnisse verfügen, um zu begreifen, was hier mit dem Prinzip des Föderalismus´ infrage gestellt und aus welchen politischen Erfahrungen heraus dieser Föderalismus begründet wurde.

Es ist darüber hinaus sehr fragwürdig, ob nicht die Folgen des harten Lockdowns in Deutschland mehr Tode zur Folge haben werden, zum Beispiel durch eine langfristige Zunahme von Depressionen und Suiziden, Fettleibigkeit, Alkoholismus usw. als durch die am stärksten einschränkenden und schädlichsten Maßnahmen gerettet wurden. Das Beispiel Schweden zeigt, dass durchaus andere Abwägungen möglich waren und sind, allerdings auf Kosten einer höheren Anzahl Toter durch die Pandemie. Auch eine solche Abwägung langfristiger Folgen gegenüber dem kurzfristigen, auf Einzelmaßnahmen bezogenen Nutzen fand in den Medien praktisch nicht statt. Nun kann Deutschland aufgrund des relativ ausgebauten Sozialsystems evtl. hoffen, dass ein Großteil dieser Langfristfolgen aufgefangen und der Schaden begrenzt werden kann. Die schwedischen Fachgremien haben dies aber selbst unter den Bedingungen des schwedischen Sozialsystems anders eingeschätzt und gerade zum Schutz der sozial Schwächsten auf harte Lockdown-Maßnahmen soweit wie möglich verzichtet. Dies nicht einmal seriös zu debattieren, weist noch einmal auf das vollständige Versagen der Medien hin, die im ersten Pandemie-Sommer dieses Versagen noch überboten haben, indem sie, größtenteils ohne die realen Verhältnisse vor Ort zu beachten, das deutsche Modell in alle Welt exportieren wollten, nach der Devise: 'Am deutschen Wesen soll die Welt genesen'. Die gleichen Lockdown-Maßnahmen wie in Deutschland ohne ernsthafte Berücksichtigung der Lockdown-Folgen für sehr viel ärmere Länder einzufordern, grenzt an Anleitung zum Massenmord. Maßnahmen, die schon unter den sehr viel stärker sozial abgesicherten Verhältnissen in Deutschland ambivalent zu betrachten sind, mussten in ärmeren Ländern notwendig in die Katastrophe führen, mit den Folgen der Massenverelendung und der massiven Stärkung autoritärer Tendenzen.

Widerspruch wird nur im Rahmen des abgesteckten Diskurses geäußert, eine Kritik, die den Rahmen der hegemonialen Erzählung nicht verlassen darf. Dabei übernehmen die Medien für sich ein Herrschaftsideal und kritisieren EntscheiderInnen vor allem dann, wenn sie diesem nicht gerecht werden, z. B. nicht autoritär genug durchregieren, oder es gar wagen, den Rahmen der hegemonialen Erzählung selbst infrage zu stellen. Die Presse sieht ihre Aufgabe nicht mehr in der Kontrolle der Macht, sondern begreift sich als Teil dieser. Die Vierte Gewalt wird damit zur antidemokratischen Kraft, die zum einen ihren Zweck darin findet, als Kettenhund über die Einhaltung der Diskursgrenzen zu wachen, und zum anderen ihre Aufgabe darin sieht, in der BeraterInnenfunktion der Macht zur Optimierung ihrer Herrschaft beizutragen, soweit sie nicht schon durch ihre erzieherischen Pflichten gegenüber der Bevölkerung zeitlich ausgelastet ist. Es kommt nicht einmal mehr die Idee auf, dass Menschen sich gegen vorgegebene, als "richtig" angesehene politische Entscheidungen entscheiden dürfen – abweichende Meinungen vom Mainstream werden als zutiefst antidemokratisch definiert, ausgegrenzt und delegitimiert.

Zum Abschluss dieses Textabschnitts noch ein letztes Beispiel dafür, dass durch die Sondersituation der Pandemie ehemals liberale bürgerliche Anspruchsmedien und Strukturen zu offen bigotten, autoritäre Diskurse befördernden Agenturen mutierten: Die Geschwindigkeit, mit der sich kritische Institutionen, in diesem Fall die Jury des 'Unwort des Jahres', in autoritäre Strukturen wandeln und die Unbefangenheit, mit der eine bürgerliche Institution der Sprachkritik mit weitgehender Unfähigkeit, die eigene Sprache und die eigenen Aussagen zu reflektieren, glänzt, ist selbst aus Sicht einer radikalen linken Gesellschaftskritik erstaunlich. Als 'Unwort des Jahres' wurde für 2020 der Begriff 'Corona-Diktatur' gewählt, begründet wurde dies primär damit, dass es sich hier um Diktaturverharmlosung handeln würde. Nun reicht eine kurzer Rückgriff auf politische Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte, um innerhalb kürzester Zeit mindestens ein Dutzend Bindestrich-Diktatur-Begriffe zu erinnern, in der Regel verwendet von linker Seite zur Kritik des Staates, der Gesellschaft und ihrer Strukturen. Drei passende Zitate lassen sich zum Beispiel im Internet in ca. fünf Minuten finden:

1) - Die Atom-Diktatur (gleich an zwei Stellen)


2) - Die Diktatur des Patriarchats
Aus einem Interview mit Alice Schwarzer:


3) - Die Diktatur des Effizienzdenkens auch Effizienzdiktatur
Ein wie ich finde sehr gelungener Begriff um bestimmte aktuelle Tendenzen zu beschreiben.


Diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Die Bindestrich-Diktatur-Begriffe sind seit Jahrzehnten ein übliches Mittel politischer, zugespitzter Aussagen, mal gelungen, mal weniger angebracht, doch eine Diktaturverharmlosung sind sie sicher nicht. Und im Fall der Pandemie werden sogar real massiv Grundrechte eingeschränkt, der Polizeiapparat in Stellung gebracht und Protest kriminalisiert, bei gleichzeitiger teilweiser Aussetzung normaler parlamentarischer Abläufe. Angesichts dessen ausgerechnet in diesem Fall den Bindestrich-Diktatur-Begriff als unangemessen und sogar moralisch verwerflich zu bezeichnen, erfordert schon ein erhebliches Maß an Ignoranz und Verweigerung kritischer Begriffsreflexion und die Ausblendung gesellschaftlicher Realitäten unter der Pandemie. Die Wahl des Begriffs 'Corona-Diktatur' zum Unwort des Jahres ist eine offensichtliche politische Fehlleistung mit Tunnelblick. Wenn eine im politischen Diskurs übliche polemische Zuspitzung der Bezeichnung von Machtpolitik einer Teilgruppe der Gesellschaft gegenüber einer anderen als 'Diktatur' zum Unwort erklärt wird, weist dies vor allem darauf, dass die Jury des 'Unwort des Jahres' sich offensichtlich und unbefleckt von jeder Erkenntnis dazu entschlossen hat, die Kritik der Corona-Politik zu delegitimieren. Dabei hätte sie im Kontext der Corona-Diskurse einen Begriff finden können, der sehr viel eher als 'Unwort des Jahres' getaugt hätte: den Begriff 'Corona-Leugner', der über die Verwandtschaft mit dem Begriff des 'Holocaust-Leugners' bewusst diese Verbindung herstellt und damit den Holocaust mit Corona gleichsetzt. Dies ist nichts anderes als die Verharmlosung des Holocaust. Diejenigen, die diesen Begriff nutzen, betreiben damit eine Bagatellisierung der NS-Verbrechen, und damit wäre dies tatsächlich ein Begriff gewesen, der zum 'Unwort des Jahres' getaugt hätte. Nur hätte dann die, aus Sicht der Jury wohl falsche Seite in der Kritik gestanden, was offensichtlich nicht gewollt war.
Der Begriff fand z. B. Verwendung im Bayrischen Rundfunk, RTL, Extra 3 und der Zeit, in einigen der Publikationen in einer besonders absurden Drehung: In den Publikationen wurde – richtigerweise – der falsche und verharmlosende Vergleich der Maßnahmen der Corona-Politik mit der NS-Verfolgung von JüdInnen durch KritikerInnen der 'Infektionsschutzpolitik' als unverantwortliche Verharmlosung des NS kritisiert. Gleichzeitig wurde aber durch die Verwendung des Begriffs 'Corona-Leugner' eben dieser Vergleich von den AutorInnen selbst dupliziert. Sowohl der Vergleich der 'Infektionsschutzpolitik', als auch der Vergleich der Kritik dieser 'Infektionsschutzpolitik' mit NS-Verbrechen ist völlig irreal und nicht angebracht, dies gilt für beide Seiten.

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03 - Der Virus als perverse Wunschmaschine

- Der Virus als perverse Wunschmaschine, genutzt, um die Realität der bürokratisch-technokratischen Fiktion anzugleichen -


Die sich im Digital- und Finanzkapitalismus zuspitzenden Entfremdungs- und Ausbeutungsstrukturen und die gleichzeitig immer subtiler werdende Entnennung von Herrschaftsverhältnissen machen nicht nur die Menschen in den immer unerträglicher werdenden Verhältnissen prekärer Beschäftigung, mit der ineinander verwobenen Zunahme von Kontroll- und Überwachungstechnologien, Fremdbestimmung und Leistungsdruck, verrückt, sondern auch die AkteurInnen der Gesellschaftsfraktionen, welche die Herrschaftsverhältnisse substanziell aufrecht erhalten. Werden die prekär Beschäftigten im Digitalkapitalismus in eine Selbstständigkeit gezwungen, vergleichbar den VerlagsarbeiterInnen des 19. Jahrhunderts, z. B. den WeberInnen, die ihnen entgegen jeder Realität als neuer Freiraum dargestellt und deren Gewalt zunehmend in technischen Artefakten einprogrammiert entpersonalisiert wirksam wird, versinken auch die AkteurInnen der Herrschaftsausübung in der Kultur der Lüge, die substanziell für die Aufrechterhaltung dieses Systems und seiner Legitimation mit dem Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts ist. Die herrschenden Lügen sind nicht die Lügen der Herrschenden, sie sind längst zu einem Verkennungszusammenhang geworden, der auch diese zunehmend begriffslos macht, wenn es darum geht, die Gewaltsamkeit des Systems überhaupt noch zu fassen. Gesellschaftliche Diskurse, in denen unter dem Begriff 'Selbstorganisation' die fremdbestimmte Zurichtung des Selbst zur Optimierung der eigenen Ausbeutbarkeit gefasst wird, in denen der Abbau von Arbeitsrechten als 'Befreiung' verkauft wird und viele linke Themen und emanzipatorische Begriffe von FunktionärInnen besetzt werden, die sich von postliberalen Stiftungen des Großkapitals des Digital- und Finanzkapitalismus finanzieren lassen, sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Die Kultur der Lüge ist längst in den Alltag eingesickert, selbst auf der Ebene städtischer Verwaltungen gehören entsprechende Sprachregelungen inzwischen zur Normalität.

Dies alles war bereits Realität, bevor es zum Virusausbruch kam. Die unter Instrumentalisierung des 'Infektionsschutzes' als Legitimation umgesetzte Biopolitik ist vor diesem Hintergrund zu begreifen. Die Krise traf auf AkteurInnen technokratisch-bürokratischer Herrschaftsausübung, für welche die herrschenden Lügen längst zum Substrat ihres Selbstverständnisses geworden sind. Bereits vorher unfähig, die eigene ideologische Realitätsverkennung als solche zu begreifen, sahen sie diejenigen, die jene Kultur der Lüge infrage stellten, als das eigentliche Problem an, als Fortschrittshindernis oder gar als die moralisch Auszugrenzenden.

Ein typisches Beispiel hierfür ist die sogenannte Gesundheitskarte, der Aufbau einer Infrastruktur der elektronischen Erfassung aller PatientInnendaten, um so dem medizinisch-industriellen Komplex den notwendigen 'Rohstoff' für die Transformation im Zuge der Entwicklung hin zum datengetriebenen Digital- und Finanzkapitalismus zu erleichtern. Dies wird unter den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen aber notwendigerweise mittelfristig zur Enteignung dieser Daten, einer Verschärfung der Fremdbestimmung und zur Zunahme der Selektion von PatientInnengruppen führen. Für erhebliche Teile der Bevölkerung ist mittelfristig dadurch eine massive Verschlechterung der Krankenversorgung zu erwarten. Im Gegenteil zum Diskurs der AkteurInnen aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung wird die Gesundheitskarte nicht der Gesundheit der Menschen dienlich sein, der Gesundheit des medizinisch industriellen Komplexes als einem der Wachstumsbereiche des Digital- und Finanzkapitalismus´ aber vielleicht schon. In den Papieren der PlanerInnen finden sich zwar auch Hinweise auf diese Relevanz für den Digital- und Finanzkapitalismus, der Widerspruch zwischen den Interessen des Kapitals und den PatientInnen als Rohstoff dieses Kapitalverwertungsapparates wird aber schlichtweg in sein Gegenteil verkehrt, als würde die Vertiefung des Kapitalzugriffs auf die Menschen diesen nützen.

Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes haben sich all jene bereits vorher bestehenden Probleme weiter verschärft. Dabei wird die Realitätsverkennung mit einem Hypermoralismus ergänzt, der nun die Ignoranz der Realität geradezu mit einer Pflicht zur Missachtung der Selbstbestimmung und der BürgerInnenrechte derjenigen, die Widerspruch anmelden, verbindet. Die Zunahme der Renitenz der Regierten wird nicht als Problem fehlgeleiteter Politiken begriffen, sondern als Beweis für die moralische Verworfenheit jener, die sich nicht fügen. Die Kultur der Lüge kann auch unter den zugespitzten Verhältnissen der Sondergesetzgebung hier von den herrschaftsausübenden Subjekten nicht infrage gestellt werden, würde eine solche Infragestellung doch die Drohung des Selbstverlustes beinhalten, die Drohung, alles zu verlieren was ihr Selbst ausmacht. Die zunehmenden Widersprüche werden dabei durch Kontrollzwänge und die Ausweitung autoritärer Teile der Subjektkonstitution aufgefangen. Der implizit empfundene, wenn auch in seinen Ursachen nicht begriffene Kontrollverlust über die Realität wird verdrängt und in Kontrollhandlungen und Aggression gegen die Regierten und insbesondere diejenigen, die widersprechen, umgemünzt. Die politische und juristische Gegenwehr wird zur Gefahr für die Gesellschaft erklärt. Der Virus wird als perverse Wunschmaschine genutzt, um die Realität endlich der bürokratisch-technokratischen Fiktion anzugleichen und das menschliche Miteinander von all den unberechenbaren, nicht gewünschten Verhaltensweisen zu säubern.

Insbesondere die Rede vom Supergrundrecht Gesundheit steht für diese Menschenverachtung und Verachtung des realen Lebens. Die Art und Weise, wie Menschen, weil sie es wagen zu feiern oder zu tanzen, zu lieben, zu umarmen, angegangen werden, zeigt einen Hass auf dieses reale Leben, der nur ausgehend von der autoritären Subjektkonstitution des postliberalen Subjekts, für das Moral zur neuen Münze des Selbst geworden ist, begreifbar wird. Ein Subjekt das historisch in einem säkularisierten calvinistischen Protestantismus mit seiner Leib- und Lustfeindlichkeit verankert ist. Statt Vielfalt und Diversität von Menschen zu akzeptieren, unterschiedliche Wertschemata als gleichwertige zuzulassen und gesellschaftliche Lösungen in Diskussion und Aushandlungsprozessen zwischen den unterschiedlichen Menschen zu suchen, wird ein Kult der Betroffenheit begangen, der sich mit Rationalität nur noch als instrumentellem Kleid bemäntelt. Die Verschwörungstheorien liegen grundfalsch, nicht in ihrer Kritik der Maßnahmen, sondern der Ursachen für diese Entscheidungen, da sie auf der falschen Annahme basieren, dass PolitikerInnen und BürokratInnen primär rational machttaktisch agieren würden. Stattdessen bestimmen Affekte, ein autoritärer Kontrollfetisch und ein Betroffenheitskult die Politik. Gerade die Betroffenheit auslösenden Bilder von Tod und Elend und die damit erzeugten Handlungsimperative, die ein Abwägen, ein rationales Hinterfragen, als inadäquat verurteilen, führen dabei zu zutiefst menschenverachtenden Politiken. Unter dem Supergrundrecht Gesundheit wird das Leben gerade negiert, jedenfalls das Leben, welches nur dort als nicht zombieskes besteht, wo Risiken und Tod existieren – jenseits dessen bleibt nur ein zombiesker Rest der Untoten, die langsam vor ihren Bildschirmen verrotten. Für die getriebenen Treibenden des Apparates erweisen Politiken gerade dadurch, dass sie Menschen weh tun, ihre Ernsthaftigkeit und Angemessenheit angesichts einer Krise, und dies ganz unabhängig von ihrem Sinn. Bestrafungsrituale unverantwortlicher PartygängerInnen und anderer, die es trotz Krise immer noch wagen zu leben, erscheinen genau deshalb als angemessen. Gleichzeitig bedienen sie das klassische protestantisch-calvinistische Ideal des Menschen als disziplinierter Arbeitsmaschine, das nach Max Weber (Deutscher Soziologe, 1864 – 1920) den Geist des bürgerlichen Kapitalismus´ ausmacht – Ora et Labora. Ideal dieses Lebens ist der Tod als Lebens-zustand, der Zombie als Idealfigur.

Das heißt nicht, dass alle Handlungen rein irrational erfolgen. Die durch die bestehenden Machtverhältnisse konstituierte Subjektivität, der sich selbst als Entscheidende missverstehenden Nomenklatura, setzt dem Denken und Fühlen dieser enge Grenzen. Die marktwirtschaftliche Rahmung und der Glaube an die fundamentale Richtigkeit des bestehenden Systems können nicht infrage gestellt, ihre Rationalitäten müssen zwanghaft bedient werden. Gerade dies und die daraus notwendigerweise folgenden Widersprüche und Unmöglichkeiten einer real rationalen Politik, die an menschlichen Bedürfnissen, Selbstbestimmung und Freiheit ausgerichtet ist, werden durch Symbolpolitik überdeckt und führen dazu, dass die anwachsenden Widersprüche in Krisensituationen zu einer eskalierenden Politik symbolischer Handlungen führen. Der Verkennungszusammenhang muss, um den Subjektverlust zu vermeiden, auf jeden Fall aufrecht erhalten werden. Und je stärker die Widersprüche vor Augen treten, desto größere Opfer müssen in dieser Logik gebracht werden, um jene Widersprüche zu überdecken. Die Politik wird, gerade weil sie nicht umhin kann, die Rationalität des kapitalistischen Verwertungsprozesses weiter zu bedienen, in den Bereichen, die für diesen sekundär sind, zu einem repressiven, quasi religiösen Schuld-und-Sühne-Schauspiel. Ausgangssperren und Menschenopfer sind in all ihrer Irrationalität in diesem Sinn auch wiederum rational. Akteur dieser Rationalität ist aber das System. Und doch sind diese neuen Postliberalen, die illiberalen Liberalen, mit ihrer Straf- und Disziplinarlust, ihrem autoritären Charakter und ihrer Überanpassung an ein Herrschaftssystem als dessen politische Avantgarden sie sich begreifen, nicht ohne Verantwortung für ihr Handeln als AkteurInnen eines totalitären Gesundheitsstaates.

Sie tragen vielleicht nicht direkt die Verantwortung für ihr Handeln, aber für ihr Sein und damit zumindest indirekt auch für ihr Handeln. Sie sind autoritäre Charaktere nicht durch Zufall, sondern haben diese Charaktereigenschaften durch Disziplin und Leistungsbereitschaft erworben, und sich selbst in diesem Prozess der Anpassung geschaffen. Ihre Straf-und Disziplinarlust ist ihnen in diesem Sinn selbst zuzuschreiben, obwohl sie von ihr beherrscht werden. Damit wird aber jede rationale Hinterfragung zur Gefahr für das Selbst und wird deshalb in der Regel nicht zugelassen. Die Verdrängung funktioniert nicht reibungsfrei, dafür steht die Zunahme psychischer und psychosomatischer Erkrankungen als Zeichen, aber sie wird nicht einmal mehr als solche wahrgenommen. Und auf den Etagen der Macht findet diese Subjektivität zumindest teilweise Möglichkeiten ihrer Erfüllung, sei es in der Lust der BürokratInnen am Erlasse erlassen oder in der Möglichkeit der WissenschaftlerInnen und MedizinerInnen, endlich die Aufmerksamkeit zu erfahren, die sie schon immer als angemessen erachtet haben, und in vielen anderen strukturellen Gratifikationen.

Das bedenkliche Ausmaß der Korruption dieser politischen AkteurInnen besteht dabei gerade darin, dass sie ihre eigene Korruption nicht als solche wahrnehmen, sondern sich für besonders moralisch aufrecht handelnde Menschen halten. Sie führen Kreuzzüge durch, um den sinnlosen Arbeits- und Familienalltag als Teil der Herrschaftsmaschine in ihrer Monstrosität zu vergessen, und um sich selbst als moralisch Teilhabende im Gegensatz zu den Unwissenden und Ungläubigen zu überhöhen. Dabei gilt: Je weniger reale Wirkung durch politische Maßnahmen möglich ist, desto stärker steigt das Bedürfnis willkürlicher Disziplinierung der ANDEREN bzw. der als ANDERS Wahrgenommenen – hier wird ein religiöser Opferdiskurs bedient, und um die Götter zu besänftigen, bedarf es umso größerer Opfer, je größer die Bedrohung. Also steigt mit der Hilflosigkeit das Bedürfnis nach irrationalen Disziplinar- und Strafhandlungen – viele der offensichtlich sinnlosen, teils kontraproduktiven Verbote, Kontrollen und Schikanen unter dem Anschein der Hygienedurchsetzung sind nur als magische Praxen zu verstehen, als Simulation von Handlungskontrolle, die längst entglitten ist.

Insofern ist auch zu befürchten, dass jedes Ende der Krise für diese AkteurInnen immer nur Anfang der nächsten Krise sein kann, um durch den Austausch der Krisen das Maschinchen, welches sie vor der Wahrnehmung der Realität schützt, am Laufen zu halten. Das ihnen die Flucht in regressive Technokratieträume der Beherrschbarkeit des Unberechenbaren von Leben und Tod ermöglicht, und zudem die Aufrechterhaltung des Scheins, sie seien die Herren des KapitalismusV, obwohl sie doch nur die Puppen an dessen Fäden sind. Die Klimakrise wird bereits in Stellung gebracht. Die Freiheit stirbt zuerst.

Zu Recht können an dieser Stelle konkrete Beispiele irrationaler Politikmaßnahmen im Rahmen der Hygienepolitiken eingefordert werden, welche diese Analysen belegen. Jene sind allerdings nicht schwer zu finden. Beispiele säkularisierter religiöser Lust- und Körperfeindlichkeit, die unter dem Deckmantel des 'Infektionsschutzes' Politik wurde, lassen sich fast beliebig aufreihen: Sei es die Verfolgung einsamer Waldspaziergänger mit Drohnen, z. B. in Italien, die polizeiliche Schikane einzelner lesender WiesensitzerInnen in Deutschland oder die öffentliche Stigmatisierung von EinzelrodlerInnen ohne Maske im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. In allen Fällen galt, dass bereits zum Zeitpunkt der Maßnahmen das Wissen darüber vorhanden war, dass im Außenraum mit etwas Abstand eine Ansteckung praktisch unmöglich ist, unabhängig davon, ob Menschen Masken tragen oder nicht. Eine Ansteckungsgefahr und Gefahr der Virusverbreitung, wenn überhaupt eine bestand, wurde hier erst durch die Maßnahmen der Polizei mit teils erheblichen Körpereinsatz erzeugt. Dies wussten Politik, Wissenschaft und Verwaltung bereits vor Erlass dieser Maßnahmen. Das gleiche gilt für nächtliche Ausgangssperren und die damit verbundenen Einschränkungen von Einkaufszeiten in Lebensmittelsupermärkten, die erheblich zur Verdichtung des Stroms von EinkäuferInnen am frühen Abend beitrugen und damit zweifelsfrei ebenfalls eher die Virusverbreitung befördert als unterbunden haben. Gerade die Ausgangssperre ist aufgrund ihrer bzgl. des Infektionsschutzes vollständigen Sinnfreiheit, die auch durch vergleichende Statistiken anderer Regionen mit und ohne Ausgangssperre zum Zeitpunkt ihrer Verhängung in Deutschland bereits belegt war, und ihrer gleichzeitigen extremen autoritären und BürgerInnenrechte offen verachtenden Symbolik ein Musterbeispiel für die Kultur der Lüge und die Durchsetzung autoritärer Politik um ihrer selbst willen, auch unter Inkaufnahme schwerster Beschädigung des Rechtsstaates und des Vertrauens in die verfassungsmäßige Ordnung. Diese Beispiele ließen sich fast beliebig fortsetzen, genannt seien hier als Stichworte nur noch das Verbot von Silvesterfeuerwerk, die Kriminalisierung einzeln mit Schildern demonstrierender DemonstrantInnen, die Kriminalisierung von Autokonvoi-Demonstrationen, die gesetzliche Ausweitung der politischen Zensurinfrastruktur für Telemedien und die repressive Reaktion auf vom hegemonial vorgegebenen Diskurs abweichende WissenschaftlerInnen. Ohne eine Analyse dieser Politiken unter Berücksichtigung der Ängste vor Kontrollverlust, der daraus resultierenden Kontrollzwangshandlungen und der postliberalen neoautoritären Formierung der bürokratisch-technokratischen FunktionsträgerInnen in Deutschland 2020 und des Begreifens der Funktion des Virus' als perverser Wunschmaschine, welche diese latenten Tendenzen freisetzte, ist all das kaum zu verstehen. Auch die vielfältigen Zwänge und psychischen Bedrängungen, die Kindern auferlegt wurden, weisen auf die Begründung der politischen Maßnahmen in einer solchen autoritären, quasi religiösen Opfer- und Bestrafungslogik hin, war doch frühzeitig bekannt, dass Kinder die Krankheit zwar bekommen können, aber durch sie nur geringen Risiken ausgesetzt sind, und kaum zu ihrer Verbreitung beitragen. Beispiel dafür ist u. a. Norwegen, das, trotz geringer Einschränkungen für Kinder nach einer kurzen anfänglichen Lockdown-Phase, zu den Ländern mit den niedrigsten Sterblichkeitsraten durch Covid-19 gehört und anhand dessen Praxis WissenschaftlerInnen in einer Studie die geringe Wahrscheinlichkeit, dass Kinder zur Übertragung im relevanten Maßstab beitragen, nachgewiesen haben. Als einzige Maßnahmen wurden in Norwegen in der Kinderbetreuung im weiteren Verlauf kleinere Gruppengrößen und moderate Hygienemaßnahmen eingeführt, keine Masken.

Verständlich ist die Biopolitik im Kontext des 'Infektionsschutzes' in Deutschland nur, wenn begriffen wird, dass in dieser gesellschaftlichen Situation die Repression als solche Sinn und Zweck der Repression war und ist. Sie kann sogar Schaden anrichten und zur Virusausbreitung beitragen, ohne dass dies ihrem Sinn Abbruch tut, im Gegenteil erhöht das nur ihren Wert, nach dem Muster, dass, je größer die Opfer sind, die der Autorität anstelle Gottes gebracht werden, die Gesellschaft um so eher auf Erlösung hoffen darf. Insofern macht auch die Opferung des kindlichen Spiels und der Freiräume von Kindern Sinn, ist doch das in der symbolischen Ordnung für Unschuld stehende Kind von alters her ein Opfer von besonderem Wert und daher besonders dazu geeignet, um die Schuld vor den Göttern zu tilgen.

Ihr technokratisch-bürokratisches Pendant fanden diese psychologischen Motive in der quasi natürlichen Tendenz von Funktions- und Machtapparaten, ihre Gewalt- und Zugriffsbefugnisse wo immer möglich auszuweiten. Und in diesem Sinn ist es wichtig nochmals zu betonen, dass auch die irrationalsten Autoritätspolitiken nicht als rein irrational zu begreifen sind, in der Logik der Apparate machen sie als Erweiterung ihrer Befugnisse und ihres Machtraumes immer auch Sinn. Von der Schließung des realen öffentlichen Raums über die Ausweitung der Überwachung des öffentlichen Raumes, der Diffamierung und des Verbots vom staatlich verordneten Meinungsspektrum abweichender Demonstrationen und der zunehmenden Diskurskontrolle im Internet, bei gleichzeitiger Stärkung des privatwirtschaftlichen Charakters der digitalen Infrastruktur, bis hin zur weit in den Privatbereich reichenden Dauerüberwachung der Einzelnen wurden lang gehegte Träume des technokratisch-bürokratischen Apparats umgesetzt. Dabei ist es egal, ob die Maßnahmen aus ganz anderen Gründen eingeführt wurden, dies ändert nichts an ihrer Funktionalität, der damit verbundenen Machtausübung und der aus ihr resultierenden Lust und Befriedigung.

Das Beispiel der Demonstrationsverbote gegen Demonstrationen der KritikerInnen der 'Infektionsschutzpolitik' ist in diesem Rahmen noch einmal deutlich als das, was es war, zu benennen: eine autoritäre Ersatzpolitik, um den Anschein von Handlungsfähigkeit zu erwecken, die eigenen Machtzugriffe auszuweiten und Sündenböcke zu generieren. Aufgrund der Zahlen aus den USA zu den BLM-Großdemonstrationen inklusive Riots, d. h. ohne Abstand von 1,5 m, war bekannt, dass Demonstrationen im Außenraum auch bei Nichtbeachtung der Bestimmungen keine nachweisbaren Effekte auf die Virusverbreitung hatten. Die Untersuchungen in Deutschland, die diesen Zusammenhang behauptet haben, basieren auf einem Fehler der Vernachlässigung eines Kofaktors. Festgestellt wurde, dass in den Herkunftsgebieten der DemonstrantInnen höhere Fallzahlen nachweisbar waren, dass ist aber, da die DemonstrantInnen primär aus Regionen mit einem hohen Anteil an Menschen stammten, die sich den 'Infektionsschutzmaßnahmen' verweigerten, trivial und nicht Folge der Demonstrationen, sondern sowohl die Teilnahme an den Demonstrationen als auch die hohen Inzidenzen basierten auf der Ablehnung der 'Infektionsschutzmaßnahmen', dem gemeinsamen Kofaktor. Ein Teil der 'Infektionsschutzmaßnahmen' war zwar sinnlos, aber eben nicht alle. So macht beispielsweise das Tragen von Masken in Innenräumen oder in Verkehrsmitteln, in denen sich viele Menschen aufhalten, unzweifelhaft Sinn. Ausgehend von der linken Erfahrung der 1970er- und 80er-Jahre, dass Verbote und Zensur zur Stärkung von Gegenbewegungen und zu einer 'Jetzt erst recht'-Haltung führen, Beispiel ist hier die Anti-AKW-Bewegung, musste allen Handelnden vorab klar sein, dass sie dem Infektionsschutz damit nicht nur nicht nutzen, sondern schaden. Diese Stärkung der Bewegung der GegnerInnen der 'Infektionsschutzpolitik' wurde staatlicherseits bewusst in Kauf genommen, da so gleichzeitig die eigenen Reihen geschlossen und die reaktionäre Autoritätsposition der herrschenden Politik gegenüber den eigenen AnhängerInnen stabilisiert werden konnte.

Deutlich wird hier nochmals der psychologische und technokratisch-bürokratische Rahmen der Politik. Viele dieser Maßnahmen wurden unter Inkaufnahme größerer Seuchenverbreitung durch Bundes-, Landes- und städtische PolitikerInnen beschlossen. Vielleicht unbewusst, doch muss vielen AkteurInnen klar gewesen sein, dass die von einer postliberalen Agenda getriebenen Lösungskonzepte, Politiken die sämtlich auf mehr Fremdbestimmung und Disziplinar- und Kontrollstrukturen ausgerichtet waren, Widerstand auslösen würden, zum Beispiel der Digitalisierungszwang. Eine Politik, die Selbstständigkeit, Freiräume und neue Erfahrungsräume geöffnet hätte, hätte hingegen die aktive Partizipation der BürgerInnen erreicht, aktive Akzeptanz. Das heißt, die Instrumentalisierung der Seuche zur Durchsetzung auf starke Ablehnung stoßender Politik im Kleid von Seuchenschutzmaßnahmen führte mit zur Ablehnung dieser insgesamt, zum Unterlaufen und passivem Widerstand und damit zur Reduktion ihrer Wirksamkeit. Dass trotzdem von der Politik so gehandelt wurde zeigt, dass die Rede von der Vorrangigkeit der Rettung von Menschenleben als wichtigstem beziehungsweise oberstem Ziel strukturell nicht mit den Handeln derselben PolitikerInnen, die dies behaupteten, übereinstimmte. Die Sicherung des autoritären Obrigkeitsstaates, sein Ausbau und die Sicherung der postliberalen Agenda (z. B. Unterbindung von Prozessen der Selbstorganisation/Selbstbestimmung) war offensichtlich wichtiger als die Toten. Zumindest wurde dies als gleichgewichtiges Anliegen mit dem Seuchenschutz behandelt, im Gegensatz zu den Freiheits- und Grundrechten, die als disponibel erachtet wurden.

Es gibt viele einfache politische Maßnahmen, die hinsichtlich der Vermeidung von Toten wirklich Sinn gemacht hätten, hier nur einige Beispiele:

- Aussetzung der Fallpauschalenregelung und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und der Pflege (Entlastung Krankenhäuser und Personal)

- Bedingungsloses Grundeinkommen

- Internationale Hilfsmaßnahmen im Großmaßstab

Diese wurden aber unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung und des Ausbaus der globalen postliberalen Hegemonie und der Disziplinarmachtstrukturen verhindert. Damit entlarvt sich die Rede davon, dass alles getan werden müsste, um Tote zu verhindern, als die rhetorische Floskel, die sie ist. Durch die Regierenden wurden durchaus Abwägungen zwischen Maßnahmen zum Schutz und ihren sonstigen politischen Folgewirkungen durchgeführt. Anders als gefordert betrafen die Abwägungsprozesse nicht die Grund- und BürgerInnenrechte, sondern Kernelemente des Postliberalismus und den Ausbau von Machtstrukturen, und diese wurden zumindest zum Teil als wichtiger als Menschenleben eingestuft.

Zum Schluss noch eine Zusatzanmerkung: Alle GesundheitsüberwachungsstaatskritikerInnen mit Nähe zur AFD oder mit vergleichbaren politischen Einstellungen sollten spätestens jetzt begreifen, dass autoritäre Politiken und Praxen nie nur an einem Ort in der Gesellschaft verbleiben, sondern grundsätzlich den Marsch durch die Institutionen antreten. Autoritäre Ersatzhandlungen, Repression und Normierungsgewalt traten nicht erst 2020 in Erscheinung. Viele der repressivsten Maßnahmen wurden bereits seit zweieinhalb Jahrzehnten, teils länger, gegen Flüchtlinge und in Deutschland lebende Menschen ohne deutsche StaatsbürgerInnenschaft angewandt. Das Testfeld für die Ausweitung von autoritären Machtpolitiken und Normalisierungspraxen im Sinne der Durchsetzung neuer und weitergehender Formen von Herrschaft, das Testfeld neuer Formen der Biopolitik, sind immer zuerst die vulnerabelsten Gruppen der Gesellschaft, Flüchtlinge, als kriminell ausgegrenzte Menschen, Obdachlose und andere. Beispiele hierfür: Erfassung biometrischer Merkmale im Ausweis wie Fingerabdruck / Beschränkungen der Bewegungsfreiheit / Einschränkung der Grundrechte und ihre Gewährung nur bei Wohlverhalten. Ein Extrembeispiel ist außerdem der Einsatz von Überwachungsdrohnen der Grenzüberwachung zur Verfolgung von 'Infektionsschutzverstößen' in Italien, Großbritannien und den USA, z. B. für die Verfolgung illegalisierter WaldspaziergänerInnen. Ein Vorgang, der dann zudem unhinterfragt von den Medien affirmativ präsentiert wurde, auch in diesem Punkt vergleichbar der Berichterstattung über die Verfolgung illegalisierter Flüchtlinge. Wer heute gegen die Repressionsmaßnahmen des 'Infektionsschutzes' protestiert, muss sich fragen lassen, wieso sie bzw. er nicht schon seit Jahren gegen dieselben Maßnahmen protestiert hat, als sie z. B. zur repressiven Überwachung von Menschen ohne deutsche StaatsbürgerInnenschaft eingeführt wurden. "Zuerst haben sie nur die Flüchtlinge drangsaliert, aber ich war ja keiner..."

Insgesamt ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es zumindest auf Deutschland bezogen bei den aktuellen Entwicklungen nicht um die Durchsetzung eines totalitären Staatswesens oder gar um Faschismus geht. Niemand muss befürchten, im Morgengrauen von schwarzen Limousinen abgeholt zu werden, um dann als Leiche auf einer Müllkippe zu enden. Der globale Monopol-Kapitalismus (gloMoKap) als globales System findet in unterschiedlichen Regionen und Ländern differente Ausprägungen. Dies kann wie in China ein totalitäres Regime sein, es können korrupte Postdemokratien wie in Ungarn sein, aber auch die Herrschaftsform der repressiven Demokratie wie in Deutschland ist mit den Anforderungen dieses globalen Wirtschaftssystems vereinbar. Die konkreten Ausprägungen dieses Wirtschaftssystems auf nationaler Ebene haben ihre Wurzeln stärker in lokalen Bezügen als im System selbst. Die Repression im Kontext des 'Infektionsschutzregimes' ist insofern primär Ausdruck einer lang zurückreichenden Tradition repressiven Regierens in der Bundesrepublik Deutschland, genannt seien hier nur die KommunistInnenverfolgung der 1950er-Jahre, die jahrzehntelange Repression gegen Schwule und Lesben, die Praxen der Zwangspsychiatrisierung, der Kalte Herbst in den 1970er-Jahren, die Repression gegen die Anti-AKW-Bewegung, die Verfolgung politisch aktiver KurdInnen und ab den 1980er-Jahren die Aushöhlung des Asylrechts und die Repression gegen Flüchtlinge. Die politische Repression im Kontext des 'Infektionsschutzes' betrifft allerdings gesellschaftliche Gruppen, welche diesen Formen der Repression bisher nicht oder nur selten ausgesetzt waren. Umso mehr Grund sollte dies für die Betroffenen sein, zu hinterfragen, wo denn ihre Solidarität war, als die anderen repressiv ausgegrenzt wurden. Der Erfolg des Kampfes gegen staatliche Repression und die repressive Demokratie, die, wie jeder Staat, für den Machterhalt auf Repression nicht verzichten kann, ist wesentlich abhängig von der Solidarität aller von Repression betroffener Gruppen. Im Rückblick auf die 1970er-Jahre zeigt sich, dass eine solche breite außerparlamentarische Opposition, die damals von SozialistInnen, AnarchistInnen, Schwulen und Lesben, AntimilitaristInnen und Feministinnen und von der Bewegung zur Bildungsreform über die feministische Bewegung und die Antipsychiatriebewegung bis hin zur Ökologie- und Häuserkampfbewegung reichte, auch gegen die parlamentarische Einheitsfront staatsfixierter Parteien politisch viel durchsetzen kann. Die außerparlamentarischen politischen Spielräume sind heute nicht kleiner. Im Parlament sieht es allerdings vergleichbar den 1970er-Jahren aus: Eine Grüne Partei, die von ihren Entwicklungslinien und ihrer technokratischen Ignoranz in vielem der SPD unter Schmidt ähnelt, AFD-PolitikerInnen, die in den 1970er-Jahren mit fast gleichlautenden reaktionären Zitaten auch zum rechten Flügel von CDU/CSU (Alfred Dregger/Hans Karl Filbinger/u. a.) hätten gehören können, bzw. tatsächlich in den 2000er-Jahren vor ihrem Übertritt zur AFD noch dazugehörten, und die Reste der neoliberalen Blockparteien CDU/CSU, FDP und SPD. Dies war aber in den 1970er-Jahren für Erfolg oder Misserfolg der Außerparlamentarischen Bewegung letztendlich irrelevant und ist es auch heute. Zentral für den Erfolg außerparlamentarischer Bewegungen ist die Frage, ob es gelingt, die Menschen zu erreichen und politische Bewusstseinsänderungen in der Bevölkerung in Gang zu bringen. Die politischen Bewegungen der 1970-er waren hier erfolgreich, die Politik folgt dann. Trotzdem kann die Repression auch in einer repressiven Demokratie für Einzelne durchaus existenzielle Folgen haben, dies war in den 1970er- und 1980er-Jahren so, z. B. durch Berufsverbote, und diese Gefahr besteht auch heute und erfordert Solidarität. Wesentliche Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse hatte dies aber nicht, da willkürliche, abstruse Einzelfälle von Repression Bewegungen insgesamt eher stärken, außer sie befinden sich bereits vorher im Prozess des Zerfalls: Ein Beispiel, an dem dies sehr gut nachvollziehbar ist, war die Stärkung des feministischen Widerstandes gegen Gen- und Reproduktionstechnologien durch die Kriminalisierung von Ulla Penslin und Ingrid Strobl Ende der 1980er-Jahre.

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03-5 - Rekurs - Peter Brückner

- Über die gesellschaftliche Normalität, die das Partikulare, das qualitativ Andere nur noch als Abweichung registriert -


Peter Brückner, Professor am Institut für Sozialpsychologie in Hannover und Zielscheibe von Kriminalisierung und Berufsverbots-verfahren durch die damalige niedersächsische Landesregierung, war in den 1970er-Jahren ein in der radikalen Linken stark rezipierter Theoretiker. Im Folgenden sollen hier zwei seiner Texte etwas ausgiebiger zitiert werden, da sie aufzeigen, dass viele der in den vorhergehenden beiden Abschnitte dargestellten gesellschaftlichen Prozesse langfristige Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft betreffen, die auch in den 1970er-Jahren, aus denen die im folgenden zitierten Texte stammen, bereits wirksam waren. Im Gegensatz zu den 1970er-Jahren scheint aber heute die radikale Linke dieser Realität weitgehend begriffslos gegenüber zu stehen und sich von ihr überrollen zu lassen. Die Zitate hier und in den folgenden Rekursen sind insofern auch als Aufforderung, sich die Instrumentarium zur kritischen Reflexion der Realität wieder anzueignen, zu verstehen, nicht indem die älteren Theorien kritiklos übernommen werden, aber indem auf das bereits Begriffene aufgebaut und dieses kritisch weiterentwickelt wird. Zurzeit erwecken viele sich als links gebende Aktive allerdings eher den Eindruck, ihre Begriffsstutzigkeit mit Händen und Klauen verteidigen zu wollen, stellt sie doch sicher, dass sie sich selbst, ihre Strukturen, z.B . die partielle Abhängigkeit von Stiftungen des Digital- und Finanzkapitals und staatlichen Fördermitteln, und ihr Handeln nicht hinterfragen müssen.

Zuerst einige Zitate aus dem Text 'Über Zivilcourage am unsicheren Ort (1979)', die aufzeigen, dass die Normalisierungsgesellschaft und die Entpolitisierung des Politischen – wir kennen keine Parteien mehr, nur noch einen übergeordneten Sachzwang – keine neuen Phänomene darstellen. Und dass die daraus resultierende notwendige Neuverortung der Position der Kritik, die darin besteht, überhaupt erst einmal eine abweichende kritische Position der Hinterfragung des Normalen, der Sachzwangslogik, zu beziehen, bereits in den 1970er-Jahren relevant war.


Brückner verweist dabei aber auch damals schon auf das Problem, dass diese Formen der Zivilcourage nicht automatisch einen progressiven Charakter haben müssen.


Doch nicht nur die bis hierhin beschriebenen Verhältnisse in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre erinnern an aktuelle Zustände. Die in einem kurzen Text 'Angst und Angst machen – Anmerkungen zur psychologischen Kriegsführung in der BRD' von Peter Brückner 1976 ausgeführten Zusammenhänge zu Kontaktschuld und Berührungsfurcht dürften ebenfalls nicht nur mir auffällig bekannt vorkommen.


Nun werden sicher viele, die sich als links verstehen, anmerken, dass doch nun aber nicht mehr die 'Guten' (Linken), sondern primär die 'Bösen' (Rechten) von dieser Form der Repression im Kontext der Auseinandersetzung um die 'Infektionsschutzmaßnahmen' betroffen sind. Sie übersehen dabei, wie schon bei der Wahl Donald Trumps, dass falsche Begriffe und ein falsches Bewusstsein durchaus Ergebnis einer richtigen Kritik sein können. Die weiße Unterschicht, die Donald Trump für die Republikanische Partei hinzugewonnen hat, wusste sehr genau, wieso sie die politischen Agenturen des globalisierten Digital- und Finanzkapitalismus´, die den Mainstream sowohl der demokratischen als auch der republikanischen Partei ausmachen, nicht gewählt haben. Ihre Kritik an diesen ist in der Erfahrung begründet, nur ist Trump nicht die Alternative, und das Problem liegt nicht darin, dass sich übermächtige AkteurInnen verschworen haben. Ähnliches ließe sich für zumindest einen Teil der Kritiken an der 'Infektionsschutzpolitik' aufzeigen. Doch die Fokussierung, sowohl auf der Seite der KritikerInnen der Politik im Kontext Covid-19, als auch der sich links emanzipativ verstehenden BefürworterInnen dieser Politik, auf Personen, Kontaktschuldkonstrukte und Begriffsverwendungen, führt auf beiden Seiten dazu, dass Verschwörungstheorien, sei es über Bill Gates, Davos u. a. oder auf der anderen Seite über die immer schon vorab verdächtigen QuerdenkerInnen, als eine Art verallgemeinerte Form der Depolitisierung des Diskurses auf allen Ebenen ein wirkliches Begreifen verhindern. Aber auch dies ist kein neues Problem, hier ein letztes Zitat von Peter Brückner:


Eine Überlieferung, die inzwischen leider auch von postliberalen grünen AkteurInnen und Teilen aktueller linksradikaler Gruppen in ihrem Ersatz einer analytischen Auseinandersetzung mit den KritikerInnen der Maßnahmen im Kontext Covid-19 durch Begriffs- und Personenbashing weitergeführt wird.

Sicher lässt sich auch bei Brückner viel zu Kritisierendes finden, Irrtümer und Fehler, und doch sind zahlreiche Texte treffender in ihrer Gesellschaftsanalyse als viele der verkürzten Meinungsartikel, die weitgehend auf analytische Schärfe verzichten und die derzeit den Diskurs bestimmen. Deshalb ist ein erneutes Lesen oder Neuentdecken dieses Autors, welches zum Verständnis auch derzeitiger Gesellschaftsverhältnisse hilfreich ist, sinnvoll.

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04 - Das neue Subjektdispositiv

- Medizin- und Kontrollpolitiken und ihre Auswirkungen auf das Subjekt -


Eine der wesentlichen Erkenntnisse der modernen Machttheorien der 1970er-Jahre, wie sie unter anderem der französische Philosoph Michel Foucault ausgearbeitet hat, ist, dass Machtdiskurse und -praxen Subjekte produzieren. Dass also, wie Menschen sich selbst begreifen, ihr Blick auf sich selbst und andere, ihre Realitätswahrnehmung, die Strukturen, mit denen sie Erfahrungen einordnen und ihre Begriffe von richtig und falsch usw. wesentlich von den Macht- und Gesellschaftsverhältnissen bestimmt wird, in denen sie leben. Dies gilt damit natürlich auch insbesondere für die direkt auf das Subjekt einwirkenden Disziplinar- und Normalisierungstechnologien, aktuell z. B. die neuen Gesundheits- und Hygienenormen oder das Verhaltensscreening in Permanenz u. a. Das Subjekt ist ihnen nicht vorgängig, es wird zu erheblichen Teilen durch diese erst konstituiert. Deshalb führen politische Auseinandersetzungen über Normalisierungs- und Machtpolitiken, insbesondere dann, wenn sie Technologien der Selbstführung und Formierung diskutieren, welche diese Politiken nur unter Berücksichtigung ihrer äußeren Auswirkungen betrachten, in die Irre. Die Normalisierungs- und Machtpolitiken greifen als Formierung in das Subjekt selbst ein, und über diesen Zugriff auf das Subjekt verändern sie auch dessen Wahrnehmung der Realität und von sich selbst, und damit auch, welches Verhalten und welche Aussagen diesem Subjekt als richtig erscheinen. Die auf das Subjekt gerichteten Machtpolitiken sind nicht nur etwas, was Subjekte tun oder ihnen angetan wird, sondern sie konstituieren Subjektivitäten, bzw. verändern das Selbstverständnis der Subjekte. Ohne diesen theoretischen Hintergrund ist es schwierig bis unmöglich zu verstehen, was zurzeit unter dem Legitimationskonstrukt des 'Infektionsschutzes' passiert und welchen Zwecken die darüber legitimierten Machtpolitiken und Zugriffe auf das Subjekt dienen.

Dabei ist dieser Prozess nicht als ein bewusst gesteuerter zu denken, es gibt keine Planungsgruppe 'New Normal' irgendwo in einer Kleinstadt der Schweiz oder sonst irgendwo, vielmehr führt die kapitalistische Entwicklung die Gesellschaft immer wieder in krisenhafte Umbruchprozesse, in denen alte Strukturen zerfallen und neue sich in der Auseinandersetzung der unterschiedlich machtvollen AkteurInnen herausbilden. Zurzeit befindet sich der globale Kapitalismus in einem Umbruch zu einer neuen Stufe der Kapitalakkumulation, der Ausweitung des Kapitalzugriffs auf die Subjekte und Natur, z. B. im Bereich der Subjekte durch die neuen datengestützten Akkumulationsregime (Google, Facebook, ...), die Ausweitung der Zugriffe des medizinischen Komplexes, der Menschen zunehmend immer schon als überwachungs- und behandlungsbedürftig definiert, und im Bereich der Natur durch die Finanzialisierung dieser zu an Börsen spekulativ handelbarem Privatbesitz, z. B. durch die Patentierung von Genen oder in einer weiteren Drehung dem Handel mit Verschmutzungsrechten. Die damit verknüpften Umbrüche verstärken dabei die Krise der bestehenden Verhältnisse und entziehen den bisherigen Technologien der Macht und Normalisierung zunehmend den Boden. Dies führt dazu, dass neue Machtzugriffe, neue Formen der Normalisierung entwickelt werden, aber nicht in einem linearen Prozess, sondern in politisch-sozialen Auseinandersetzungen geprägt von Widersprüchen, Ungleichzeitigkeiten und teils abstrusen Ersatzhandlungen. Die Ausnahmesituation unter dem Bedrohungsbild der Seuche wurde in dieser Situation von einem Teil der mächtigsten AkteurInnen, insbesondere den Konzernen des Daten- und Finanzkapitalismus´ und den mit ihnen verbundenen postdemokratischen AkteurInnen in Politik, Verwaltung und Medien genutzt, um ihre Vorstellungen der Neuformierung der Gesellschaft und des Menschen ein erhebliches Stück voranzutreiben. Auch dieser Machtzusammenhang ist dabei nicht als eine klar oder hierarchisch strukturierte Verschwörung zu denken, sondern als Netzwerk von AkteurInnen, die Positionen in unterschiedlichen Machtknoten der Gesellschaften des globalen Kapitalismus´ innehaben und sich in ihrem Denkstil und in ihrer Art der Wirklichkeitskonzeption ähneln. Teils, weil sie auf denselben 'Elite'-Universitäten, wie z. B. Harvard, der London School of Economics u. a. studiert haben, teils, weil sie über Think-Tanks, private Zusammenhänge etc. im Austausch stehen. Widerspruchsfrei ist aber auch dieses Netzwerk nicht, schon aufgrund interner Konkurrenzen.

Im Kontext des Ausnahmezustandes unter Covid-19 wurden die politischen Durchgriffsmöglichkeiten zumindest in zwei Bereichen zur erheblichen Ausweitung und Vertiefung neuer auf das Subjekt bezogener Herrschaftstechnologien genutzt: im Bereich der Digitalisierung und der supranationalen Erfassung der Subjekte im virtuellen Datenraum und im Bereich der Machtstrukturen des medizinisch-industriellen Komplexes und der Hygiene- und Gesundheitstechnologien und ihrem Zugriff auf das Subjekt. In beiden Fällen handelt es sich um längerfristige Entwicklungen, die nicht 2020 begonnen haben und die nicht 2022 abgeschlossen sein werden. Unter den Bedingungen der radikalisierten Biopolitik im Ausnahmezustand wurden sie aber sehr viel offensichtlicher. Beide Bereiche sollen im Folgenden kurz ausgeführt werden.


Subjekte im virtuellen Datenraum

Im entwickelten industriellen Kapitalismus der Fabriken und Fließbänder, also etwa in der Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre hinein, in manchen Ländern auch zeitlich verschoben, wurde der biopolitische Zugriff auf die Subjekte machtpolitisch wesentlich umgesetzt über:

- Die Strukturierung der Wohnverhältnisse, die städtische Architektur und das Melderecht, in der Regel lebten Menschen über lange Zeiträume hinweg am gleichen Ort, dem dazu eine klare sozialräumliche Komponente zugeordnet war, z. B. die klassischen ArbeiterInnensiedlungen. Diese Struktur trug wesentlich dazu bei, die noch im 19. Jahrhundert als bedrohlich empfundenen, pauperisierten Massen ordnungspolitisch zu strukturieren.

- In diesen Verhältnissen waren die Subjekte in relativ stabile soziale Verhältnisse eingebunden, Familie, Vereine, Arbeitsverhältnisse bei derselben Firma teils über Generationen hinweg. Diese örtlich und an das schichtspezifische soziale Umfeld gebundenen sozialen Strukturen waren es auch, die das Subjekt bewerteten. Die Subjekte verhielten sich verantwortlich im Sinne der Gesellschaft in Hinsicht auf die Werte und Ordnungsvorstellungen ihres sozialräumlichen Umfeldes.

- Dem entsprachen auch eine relativ stabile Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern und Generationen und klare Erwartungshaltungen an das einzelne Subjekt.

- Die Zugewanderten und nicht ortsgebundene SaisonarbeiterInnen oder gar Menschen ohne festen Wohnsitz waren potenziell moralisch suspekt.

Auch die Sozialpolitik ist in diesem Kontext, neben Polizei, Medizin und Ordnungsrecht, als ein Bereich dieses Machtzugriffes zu begreifen, der nicht nur strafend, sondern auch produktiv erfolgte, den Subjekten also Koordinaten bot, in denen sie durchaus auch einen begrenzten Möglichkeitsraum erhielten, für Karriere, eine etwas größere Wohnung, das erste Auto. In der Realität gab es natürlich immer auch parallel bereits Auflösungsprozesse dieser Strukturen, Neuformierungen, insbesondere durch Krisen wie Kriege, die Beschreibung definiert aber das, was als Normalfall begriffen wurde.

Etwa seit den 1960er-/1970er-Jahren befinden sich diese Strukturen von zwei Seiten her in Auflösung: Auf der einen Seite erwiesen sie sich zunehmend als nicht mehr in der Lage, die Gewinnmargen in sich ändernden kapitalistischen Verwertungsprozessen zu garantieren und wurden entsprechend durch neue Formen der Kapitalorganisation ersetzt, Stichworte sind hier: Globalisierung, Flexibilisierung, Automatisierung und Finanzialisierung. Auf der anderen Seite wurden die mit ihnen verbundenen autoritären hierarchischen Herrschaftsstrukturen, die festgelegten Gesellschaftsverhältnisse und die Festlegungen der Lebenswege und Lebensweisen zunehmend weniger akzeptiert und stießen auf offenen Widerstand. Seitdem befinden sich die beschriebenen alten Strukturen in einem ständigen Erosions- und Auflösungsprozess, und neue bilden sich heraus, wobei dies raumzeitlich nicht überall und nicht gleichzeitig greift, sodass alte Strukturen, Auflösungsprozesse und die Herausbildung neuer Strukturen parallel zueinander existieren. Zwar waren die sich neu herausbildenden Herrschaftsstrukturen schon länger sichtbar, im Ausnahmezustand unter Covid-19 und der damit einhergehenden zugespitzten biopolitischen Neuformierung der Gesellschaft im Sinne der aktuellen Stufe der Kapitalakkumulation, dem Versuch der Durchsetzung eines New Normal, sind sie in ihrer Funktion jedoch noch einmal deutlicher sichtbar geworden.

Die bereits genannten alten biopolitischen Machtzugriffe waren alle an relativ stabile raumzeitliche Strukturen gebunden, über welche die biopolitische Konstitution der Subjekte, ihre produktive Integration in die herrschenden Verwertungsregime, sichergestellt wurde. Diese festen Strukturen, z. B. der lebenslange feste Wohnort inklusive sozialer Einbindungsstruktur, sind als biopolitische Normalisierungsinstanz angesichts des neuen globalisierten Kapitalismus´ mit seiner maximalen Flexibilisierung der Arbeitskräfte sowohl bzgl. des Arbeits- und Lebensortes als auch bzgl. des Verfalls von Qualifikationen und der permanenten Veränderung der Anforderungsprofile aber nicht mehr allgemein aufrecht zu erhalten. An ihre Stelle treten neue machtförmige Zugriffe auf die Subjekte:

- Statt der Kontrolle raumzeitlich nur sehr begrenzt flexibler Arbeitskräfte müssen nun große, hochdiverse, flexible und nicht mehr an einen Ort gebundene und sogar nationale Grenzen überschreitende Menschenmengen biopolitisch normalisiert werden. An die Stelle des Realraums tritt der virtuelle Raum in dem nun jede und jeder erfasst wird, nicht mehr ortsgebunden, sondern als global verfügbarer Datensatz, dem im Idealfall aus Sicht der Herrschenden jederzeit über die Verortung der Smartphone-Daten auch Realraumkoordinaten, Bewegungsprofile und – über die Verknüpfung mit weiteren Daten – algorithmisierte Bewertungsprofile zugeordnet werden können. Zentral ist nicht mehr die Organisation der örtlichen sozialen Raumstruktur, sondern die Flusssteuerung über die Kontrolle der Transportwege, sei es über Gesichtserkennungssoftware und biometrische Überwachung, oder im Bereich der Illegalität durch die Überwachung der Menschen mit Drohnen.

- Die soziale Kontrolle wird virtualisiert, sei es durch die schon genannten anonymen Algorithmen, den Zugriff auf zunehmend fast jede Lebensäußerung durch die neue 'smarte' Durchdringung unseres Alltags bis hin zum Kühlschrank durch Überwachungstechnologie und ihre Verwandlung in Daten und Rankings, die über Jobzugänge, Chancen auf einen Kredit oder eine Wohnung entscheiden, oder durch oft nicht weniger anonyme 'soziale' internetbasierte Netzwerke, die immer mehr zum partizipatorischen Panoptikum degenerieren, in dem alle alle überwachen und sorgsam darauf achten, dass niemand den Pfad der Tugend, der richtigen Begriffswahl und des im Normalisierungsdiskurs als akzeptabel definierten Meinungs- und Handlungsspektrums verlässt. Nicht mehr das Ghetto, sondern eine datengesteuerte Ausgrenzung, vergleichbar der im Film "Gattaca" dargestellten, wird die Ausschlüsse der Zukunft bestimmen, falls sich diese Politik durchsetzt. Nur, dass die genetischen Dispositionen im Datenraum, im Gegensatz zur Gattacadystopie, lediglich ein Datensatz unter vielen sein werden, Gesundheitsdaten, Konsumdaten, politische Einstellungen, Postleitzahl, Zahlungsverhalten u. a., aufgrund derer die Subjekte klassifiziert und ihnen Lebensmöglichkeiten gewährt oder verweigert werden.

- Suspekt, verdächtig werden damit die, die sich dieser Kontrolle entziehen, nicht bereit sind, alltäglich und überall alles über sich selbst in der Öffentlichkeit auszustellen, die sich z. B. nicht der Kontrolle der Virus-Trackingap unterstellen und ihren Impfstatus nicht für öffentliches Datengut halten.

- Auch totale Institutionen wie z. B. die Schule, werden in den virtuellen Raum verlagert. Das führt aber auch in diesem Fall mitnichten zu einer Verringerung des totalitären Zugriffs auf die Subjekte, dieser wird im Gegenteil verschärft. In den USA wurde unter den Bedingungen des Ausnahmezustands unter Covid-19 deutlich, dass im Fall von Online-Unterricht erstens die Kontrolle massiv in den Privatbereich ausgeweitet wurde, es kam mehrfach zu Polizeiaktionen, weil LehrerInnen glaubten, Hinweise auf abweichendes Verhalten im Hintergrund der SchülerInnen bemerkt zu haben. In einem Fall führte eine herumliegende Spielzeugpistole zur Erstürmung der Wohnung durch eine Sondereinheit und zu Disziplinarmaßnahmen gegen den Schüler und die Familie wegen Verstoßes gegen den Schulcode bzgl. Waffen. Zweitens wird die Verhaltenskontrolle massiv verschärft, so werden durch einen Teil der Lernprogramme selbst die Augenbewegungen der SchülerInnen erfasst, um diese bzgl. der Bewertung der Aufmerksamkeit oder des Blickes auf nicht im Kamerafeld befindliche Unterlagen zu kontrollieren. Genutzt werden diese Daten dann auch für Scoring-Verfahren, die langfristige Bewertung der Subjekte, mit anderen Daten verknüpft, wie Datensammlungen der Jugendbehörden usw. Noch ist dies zwar die Ausnahme, die Technologieentwicklung und die Konzerne des datengetriebenen KapitalismusV forcieren dies aber. Hier waren in der Zeit der 'Infektionsschutzmaßnahmen' insbesondere Alphabet (Google) und Facebook mit 'großzügigen' Förderungen von Modellprojekten und Politikbeeinflussungskampagnen für den langfristigen Umbau des Bildungssystems hin zur Digitalisierung aktiv.

Die 'Infektionsschutzpolitik' im Zeichen von Covid-19 ließ diesen Prozess des Austauschs alter gegen neue biopolitische Machtzugriffe deutlich zutage treten. Am augenfälligsten war dies im Bereich der Politik der Zugangsbeschränkungen und Ausgangssperren und der diskursiven Verknüpfung ihrer Aufhebung mit der Durchsetzung neuer digitaler Tracking-Verfahren. Hier wurde zumindest im öffentlichen Diskurs eine der repressivsten 'alten' biopolitischen Repressionsmaßnahmen – die Ausgangssperre – bzw. ihre Aufhebung mit der Durchsetzung der 'neuen' Form biopolitischer Flusssteuerung der Subjekte über Smartphone-Tracking direkt miteinander verknüpft. Aber auch in vielen anderen Bereichen wurde der Ausnahmezustand zur Modernisierung des biopolitischen Zugriffs auf die Bevölkerung genutzt, sei es die weitere Durchsetzung der elektronischen PatientInnenakte parallel zur Epidemie, der weitere Abbau von PatientInnendatenschutzrechten, die weitere digital gestützte 'Flexibilisierung' der Arbeit oder der Versuch, die Abschaffung des Bargeldes voranzutreiben, obwohl bereits im Frühjahr 2020 feststand, dass vom Bargeldverkehr keine relevante Ansteckungsgefahr ausging. Dabei ist wichtig zu beachten, dass der Zugriff auf die Daten immer auch der Rohstoffbeschaffung für die neue Akkumulationsphase des datengetrieben Daten- und Finanzkapitalismus´ dient, indem Daten als das neue Öl bezeichnet werden. Die biopolitischen Zwecke überschneiden sich hiermit, im Einzelfall entstehen hier aber auch Konfliktfelder zwischen unterschiedlichen Machtfraktionen, insbesondere in Bezug auf die Frage, ob die Konzerne oder der Staat Zugriff und Kontrolle haben, oder wie das Zusammenspiel funktioniert. Dass es bei diesen neuen Formen der Biopolitik nicht nur um äußere Machtpolitiken geht, zeigt sich darin, dass immer mehr Menschen die Scorings und Analysen ihrer Daten nicht als äußerliche repressive Zumutung abweisen, sondern sich zunehmend selbst über diese definieren. Die Gesundheitsapps sind hier nur ein Feld, die Selbstdefinition vieler NutzerInnen des Web 2.0 über Resonanz in internetbasierten 'sozialen' Netzwerken ein anderes. Die neuen Biopolitiken produzieren neue Subjektivitäten, für die Scorings und Feedback im Extremfall wichtiger werden als konkrete soziale Beziehungen oder die eigene Wertung, bzw. bei denen diese die eigene Wertung bestimmen. Und die, wenn neben ihnen ein Mensch körperlich massiv attackiert wird, den Vorgang filmen, statt den Versuch zu unternehmen, ihn zu verhindern.


Vorsorgesubjekte – Die Ausweitung der Formierung der Subjekte durch den Zugriff des medizinisch-industriellen Komplexes im 21. Jahrhundert

Bereits Ende der 1990er-Jahre kritisierte die feministische Wissenschaftlerin Barbara Duden, z. B. im Text 'Entkörperung im Dienst der Gesundheit (1998)', scharf eine Entwicklung der Gesundheitsdiskurse und Praxen, die sich bis heute aber nur weiter verschärft hat: die Ideologie vom Menschen als Mangelwesen aus medizinischer Sicht, das lebenslanger Überwachung durch den medizinisch-industriellen Komplex bedarf.


Diese von Duden beschriebene Entwicklung fand im Kontext einer Umschrift des Menschenbildes statt, das im posthumanistischen Diskurs den Menschen insgesamt als grundsätzlich defizitär definiert, ein Wesen, das in allen Bereichen der technischen, biologischen und sozialen Optimierung bedarf. Nicht zufällig erinnert dieses Konstrukt an das Ideologem der Erbsünde des Protestantismus´, tritt es doch, nachdem die protestantische Ethik als Geist des Kapitalismus´ nicht mehr funktional ist, an seine Stelle und bildet die neue Grundlage anstelle der Prädestinationslehre für die Legitimation der Hierarchie im Kapitalismus. Subjekte, die sich diesem Prozess der permanenten Nachbesserung und der dafür vorausgesetzten permanenten Überwachung aller ihrer Lebensäußerungen entziehen oder gar die Notwendigkeit dieser an sich bestreiten, vergehen sich in diesem Weltbild der neuen Normalität nicht nur an sich selbst, sondern auch an der Gesellschaft, der sie ihr volles Verwertungspotenzial vorenthalten. Der mit dem medizinischen Konstrukt des Vorsorgesubjekts zuerst im Bereich der Medizin etablierte Diskurs des Menschen als Mangelwesen ist im Laufe der letzten Jahrzehnte in immer weitere Lebensbereiche vorgedrungen: Die ÄrztIn wird ergänzt durch den Coach, durch die Smartwatch, die Gesundheitsapp, den Fitness-Tracker – und durch das partizipative Panoptikum der sozialen Netzwerke, in denen sich alle jederzeit gegenseitig überwachen. Die Gesundheitsideologie findet ihre Entsprechung in der stets einzuhaltenden Datenhygiene einer Gesellschaft, in der Moral sich vor allem darüber definiert, dass das Subjekt die richtigen Likes gesetzt hat und auf keinen Fall die falschen. Im Kontext der 'Infektionsschutzpolitik' unter Covid-19 wurde dies vor allem darin deutlich, dass insbesondere viele Menschen aus den neuen Mittelschichten der postmodernen Dienstleistungsgesellschaft Maßnahmen nicht so sehr als lästige Pflicht auffassten, von Kritik ganz zu schweigen, sondern als Mittel der Selbstdarstellung ihrer moralischen Überlegenheit, das Selfie mit Maske wurde geradezu zum Icon der die neue Normalität affirmierenden Subjekte. Dass das Tragen der Maske von einer lästigen Pflichtübung zu einer symbolisch aufgeladenen Handlung wurde, wurde überdeutlich aus der Reaktion auf Kritik an eben dieser Symbolpolitik, wie sie z. B. von den deutschen SchauspielerInnen geübt wurde, die in Kurzfilmen den 'Infektionsschutz'diskurs kritisierten und dabei den Fokus gerade auf diese absurden Symbolproduktionen richteten. Vergleichbar der Kritik einiger der Kurzfilme, geht es hier nicht um den Sinn der Handlung, eine Maske zu tragen, dies bedürfte einer differenzierten Betrachtungsweise bzgl. des Wo, Wann und von wem, sondern darum, welche Bedeutungszuweisungen mit dem unhinterfragten Tragen von Masken und ihrer symbolischen Überhöhung im veröffentlichten Diskurs verbunden wurden. Diese Bedeutungszuweisungen sind es, welche die biopolitische Funktion der Handlung für das postdemokratische Subjekt aufdecken.

Aus anarchistischer Sicht ist es demgegenüber wichtig, weiter eine Subjektivität zu befördern, die ihren eigenen subjektiven Gewissen und Wertmaßstäben folgt, und ihr Handeln und Tun nicht einer äußeren Zeichenrealität unterordnet. Dies bedeutet bzgl. Masken, sie nur dort freiwillig zu tragen, wo dies als lästige, aber sinnvolle Maßnahme zum Schutz anderer oder sich selbst angesehen wird und als verhältnismäßig zur Einschränkung durch die Maske, und allem anderen mit Widerspruch zu begegnen. Die körperliche Selbstbestimmung ist Kern der Menschenwürde und der Freiheit des Menschen, dies gilt auch dort, wo die Entscheidungen des Subjekts diesem schaden. Freiheit gibt es nur da, wo sie die Freiheit, im allgemeinen Diskurs als falsch angesehene Entscheidungen zu treffen, beinhaltet. Die Freiheit zur Krankheit oder zum krankmachenden Verhalten ist ein wesentlicher Bestandteil der Menschenwürde, zumindest soweit andere dadurch nicht nachweislich signifikant gefährdet werden – und im Außenraum ist das Tragen von Masken absurd. Diese Freiheit gilt natürlich erst recht für die Verweigerung von Impfungen, zumindest soweit anderen Menschen die Impfung zugänglich ist und sie dadurch keinem Risiko durch das Verhalten der ImpfgegnerInnen ausgesetzt sind. Das heißt, im Fall von Covid-19 gilt, nachdem alle Risikogruppen geimpft sind bzw. die Möglichkeit erhalten haben, dass die Entscheidung, sich impfen zu lassen oder nicht, eine Entscheidung ist, die einzig die Person selbst und ihre körperliche Selbstbestimmung betrifft, und insofern dieser völlig freistehen muss. Mit Impfausweisen und der Diskriminierung Ungeimpfter wird aber auch die Impfung inzwischen primär zur symbolischen Handlung einer Zeichensetzung der biopolitischen Anpassung der Subjekte. Zu befürchten ist, dass zukünftige biopolitische Maßnahmen hier mit der forcierten Durchsetzung weiterer selbstverständlich von 'verantwortungsvoll' handelnden Subjekten zu internalisierenden 'Gesundheits'optimierungsmaßnahmen anknüpfen werden und diese für das Subjekt einen ähnlichen normativ-repressiven Charakter für die Selbstkonstitution entwickeln, wie der Vollzug der 'richtigen' heterosexuellen Sexualpraxen sie noch in den 1960er-Jahren hatte. Wobei sich die oben genannte Entwicklung spätestens seit den 1980er-Jahren und dem Diskurs um AIDS andeutet, in dem Homosexualität normalisiert und 'Risiko'sexualität ohne Schutz zum neuen Abjekten erklärt wurde.

In den 1970er-Jahren war demgegenüber der Diskurs körperlicher Selbstbestimmung noch ein wesentlicher Kern linker emanzipatorischer Politik, von der Medizinkritik über die Antipsychiatriebewegung und die Einforderung sexueller Selbstbestimmung bis hin zur Schwulen- und Lesbenbewegung. Auch in Teilen der Frauengesundheitsbewegung ging es am Anfang um die Wiedererlangung der leiblichen Selbstbestimmung gegen patriarchale Zugriffe und staatlich-medizinische Kontrolle. Doch Stück für Stück verwandelte sich dieser Ansatz, den z. B. Frauengesundheitszentren anfangs verfolgten, in die Forderung nach Ausweitung ärztlicher Fremdüberwachung. Im Kontext des sich ausbreitenden medizinischen Vorsorgediskurses wurde das alte Bild der Frau als Mängelwesen neu gefasst und gleichzeitig mit dem Versprechen, diese Mängel durch medizinische Dauerüberwachung in den Griff bekommen zu können, ein Entlastungsangebot an Frauen gemacht. Statt diesen Diskurs von seinem Grundsatz her infrage zu stellen, wurde in diesem Kontext von Selbsthilfegruppen zunehmend eine bessere, frauengerechte medizinische Überwachung gefordert. Wobei als ein wesentlicher Faktor, der zu dieser Entwicklung führte, auch die Finanzierung der aus der Frauenbewegung hervorgegangenen, sich zunehmend professionalisierenden Strukturen durch öffentliche Gelder zu sehen ist, mit dem damit verbundenen Druck, sich in die modernisierte Biopolitik einbinden zu lassen. Auch dies ist eine Entwicklung, die in den 1980er-Jahren ihren Ausgangspunkt hat. Wenn im Kontext Covid-19, unter Verweis auf die höhere Bereitschaft von Frauen, den Vorgaben der medizinischen Hierarchie zu folgen, von 'toxischer Männlichkeit' bezüglich der Männer gesprochen wird, welche jene Compliance verweigern, dann verweist dies darauf, dass die medizinische Fremdbestimmung inzwischen nicht nur unzureichend kritisiert wird, sondern der autoritäre Zugriff auf die Körper und entsprechender Gehorsam geradezu eingefordert wird. Zwar sind sicher nicht alle ImpfverweigerInnen von emanzipatorischen medizinkritischen Überlegungen getrieben, aber zumindest als Residuum spielen sie selbst bei konservativen oder reaktionären ImpfgegnerInnen und KritikerInnen der 'Infektionsschutzpolitik' eine Rolle.

Die höhere Bereitschaft von Frauen zur medizinischen Compliance lässt sich ausgehend vom ursprünglichen Ziel der Selbstbestimmung insofern auch als Scheitern eines Teils feministischer Politik interpretieren. Ein nicht unwesentlicher Teil der feministischen Politik war, wie ausgeführt, in den 1970er- und 1980er-Jahren explizit auf die Körperpolitik ausgerichtet, auf das Abstreifen der Zwänge und Zurichtungen des weiblichen Körpers, auf den Widerstand gegen die Erziehung zur Unmündigkeit. Ausgehend von der Analyse und Kritik einer über Jahrhunderte wirksamen weiblichen Sozialisation, in welcher der Körper der Frau, ihr Leib, ihr Geschlecht, als immer schon mangelhaft, der Kontrolle bedürftig, definiert wurde und wird, mit der einzigen Veränderung, dass Priester und Patriarch die Kontrollfunktion im Laufe des 19. Jahrhunderts an Ärzte übertrugen, den Arzt, der die 'weibliche Hysterie' unter Kontrolle zu halten hatte, und den Frauenarzt, der als Herr des Geburtsaktes und aller mit ihm verbundenen Funktionen inauguriert wurde, wurde explizit die Selbstaneignung des eigenen Körpers, die medizinische und körperliche Mündigkeit, ein wesentliches Ziel feministischer Bewegungspolitik. Und auch davon ist leider nur wenig übrig geblieben. Im Gegenteil, die gewaltförmige Formierung weiblicher Körper durch Schönheitsoperationen, Diskriminierung durch Beautyism, und die Ansprüche an das Aussehen, Körperenthaarung etc. haben inzwischen Ausmaße erreicht, die weit über das hinausgehen, was in den 1960er-Jahren der Fall war, und dies gilt leider auch für die gesundheitspolitische (Selbst-) Überwachung. Die unter Frauen größere Bereitschaft, sich den biopolitischen Disziplinarmaßnahmen unter Covid-19 zu fügen, kann insofern in diesem Kontext mit Einschränkungen auch als Teil einer bis heute nur partiell gebrochenen Tradition der Unmündigkeit begriffen werden, obwohl gleichzeitig sicher auch der in der geschlechtlichen Sozialisation verankerten stärkeren Ansprechbarkeit durch das Argument 'der Sorge um andere' nicht unerhebliche Relevanz zukommt. Und der Diskurs um das Verhalten der Männer in diesem Kontext macht deutlich, dass jenes Regime der körperlichen Fremdbestimmung, das klassisch vor allem Frauen traf, nun zur verallgemeinerten Form biopolitischer Normierung der Menschen wird – für Frauen wie Männer. Dabei ist deutlich herauszustellen, dass Selbstbestimmung und Freiheit Werte an sich sind, sie müssen sich nicht dadurch legitimieren, dass sie zu einem längeren und gesünderen oder überhaupt besseren Leben führen. Auch die Wahl für ein Leben wie jenes von Janis Joplin ist zu akzeptieren. Zwangsbehandlungen, die Abwertung und Ausgrenzung von der medizinischen Norm des 'gesunden' Verhaltens abweichender Menschen ist falsch. Die Art und Weise, wie im Kontext Covid-19 die linke Medizinkritik und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung negiert und im Höchstfall zu einem Nebenwiderspruch degradiert wurden, zeigt vielleicht am deutlichsten, wie weit die Formierung der neuen biopolitischen Normalisierungssubjekte selbst innerhalb der Linken und der feministischen Szene fortgeschritten ist.

Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit den 'Infektionsschutzmaßnahmen' unter Covid-19 setzt das Selbstbewusstsein voraus, eigenmächtig zu entscheiden, was wichtig im Leben ist, welche Verluste durch zumindest teilweise extrem zweifelhafte Maßnahmen noch hinnehmbar sind, und welche nicht, und diese Entscheidung nicht MedizinerInnen und MikrobiologInnen zu überlassen. Hier ist auf das Zitat von Agamben am Anfang des Gesamttextes zu verweisen und noch einmal festzuhalten: Das nackte Leben lebt nicht.

Für Menschen, die aufgrund Vorerkrankungen und Alter davon ausgehen können, nur noch wenige Monate oder vielleicht ein Jahr zu leben, kann es durchaus für sie selbst die richtige Entscheidung sein, ihren Geburtstag im Kreise der ihnen nahen Menschen zu feiern, selbst wenn damit bei Ansteckung durch Covid-19 ein Sterblichkeitsrisiko von 30 – 50 % verbunden ist. Und wenn der 70-jährige Besitzer einer kleinen Pizzarestaurantkette in den USA, der diese selbst aufgebaut hat, lieber bereit ist, das Sterblichkeitsrisiko von ca. 1 % in seiner Gesundheits- und Altersgruppe in Kauf zu nehmen, als die Zerstörung seines Lebenswerkes durch einen Lockdown, ist auch dies nicht irrational. Unmenschlich ist eine Politik, die so tut, als wäre der statistische Gesichtspunkt der Public-Health-Politik identisch mit den individuellen Interessen der Menschen. Die Reduktion der Menschen auf einen Datenstring ist in sich eine von jeder Menschlichkeit abstrahierende Grausamkeit. Dass nun zunehmend versucht wird, die Menschen dazu zu nötigen, diese individuell sinnfreie, vom realen Leben abstrahierende statistische Risiko-Sichtweise der Medizin als Selbstdefinition zu übernehmen, negiert das Leben, das jene Sichtweise schützen zu wollen vorgibt. Jede linke Bewegung, die ihre Begrifflichkeiten und Ziele von einem befreiten selbstbestimmten Leben nicht vollständig aufgegeben hat, muss sich diesem Projekt des neuen biopolitischen Normalisierungssubjekts entschieden entgegenstellen. Dabei ist jedoch zu betonen, dass Bewegungen für ein Zurück zu den alten biopolitischen Normierungspolitiken der 1960er-Jahre ebenso bekämpft werden müssen. Zum Teil führt dies dazu, dass entweder oder Fragen wie: "Seid Ihr für Bolsanero oder für Merkel?" aus anarchistischer Sicht nur mit "Weder noch" zu beantworten sind. Übertragen auf die biopolitische Normalisierung von Kindern heißt das: Wir wollen weder den Rohrstock noch Psychopharmaka, um unbequeme Kinder ruhigzustellen. Und bezogen auf die 'Infektionsschutzpolitik' unter Covid-19 geht es nicht darum, jede einzelne Maßnahme zu bewerten, sondern sich der Instrumentalisierung des Ausnahmezustandes zur weiteren biopolitischen Durchsetzung eines New Normal im Sinne des Daten- und Finanzkapitalismus´ und eines neuen biopolitischen Normalisierungssubjekts entgegenzustellen.

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04-5 - Rekurs - Ivan Illich

- die Folgen der Medizinalisierung des Lebens & Alltags -


Ivan Illich hat in den 1960er-/1970er- und 1980er-Jahren wesentliche theoretische Grundlagen zur linken emanzipatorischen Kritik von totalen Institutionen und ihren gesellschaftlichen Wirkungen formuliert (Medizin / Schule / Herrschaftssprache / ...). Im Bereich der Medizinkritik war das Buch 'Die Nemesis der Medizin' (1976) innerhalb linker Diskurse der kritischen Auseinandersetzung mit der Medizin als Herrschaftstechnik und bei der Frage nach Alternativen teils überhaupt erst der Initiator vieler folgender Auseinandersetzungen. Genauso wie im Fall Peter Brückners und sowieso bei allen Texten geht es hier nicht darum, die Texte von Illich als DIE linke Wahrheit aufzustellen, sie sind aber nach wie vor hilfreich, um eine Distanz zum herrschenden Narrativ über Medizin und Fortschritt zu erzeugen – und viele kritische Denkansätze aus diesen Texten sind auch heute leider nicht weniger aktuell. Die Fremdbestimmung durch die Medizin hat in vielen Bereichen eher zu- als abgenommen, insbesondere unter Berücksichtigung der Permanenz des Zugriffs auf die Menschen als immer schon der Beaufsichtigung und Vorsorge bedürftiger PatientInnen.

Die folgenden Zitate aus dem Buch 'Die Nemesis der Medizin' (1976) zeigen einen Teil der Analysen von Illich zur dieser Frage der Fremdbestimmung durch die Medizin auf.


Auch auf Ivan Illich bezogen gilt, dass das erneute Lesen hilfreich ist, insbesondere, um viele der naiv-technokratischen 'linken Befreiungsträume', die nicht selten auf eine Befreiung vom Leben an sich hinauslaufen, Utopien, in denen Menschen weder schwitzen noch fluchen, geschweige denn Fehler haben oder gar krank werden, als das zu entlarven, was sie sind: autoritär- totalitäre Fluchten. Hier ist Illich mit dem ganz am Anfang zitierten Giorgio Agamben zusammenzudenken. Das Leben lebt nicht, und das Leben primär im Hinblick darauf zu organisieren, den Tod so lange als möglich hinauszuzögern, führt zur Verhinderung, das Leben zu leben. Für eine 85-jährige, die aufgrund von Vorerkrankungen weiß, dass sie nicht mehr lange leben wird, kann es durchaus sinnvoll sein, lieber wenige Monate mit denen und dem zu verbringen, die bzw. das wichtig für sie sind bzw. ist, als einige Monate Kerkerhaft im Pflegeheim hinzuzugewinnen, mit denen eine Corona-Infektion potenziell verhindert wird.

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05 - Die digitale Enteignung

- Der Ausnahmezustand als Beschleunigung des Gesellschaftsumbaus im Interesse des Digital- und Finanzkapitalismus -


Technologische Entwicklungen folgen keinen naturhaft notwendigen Richtungen, auch die Naturwissenschaften entwickeln sich nicht aufgrund natürlicher Vorgaben in eine bestimmte Richtung. Die Entwicklung von Naturwissenschaften und Technologie ist ein von Menschen bestimmter Prozess. In welche Richtungen diese sich entwickeln, welches Wissen sie erzeugen, und ob sie zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung oder zu Unfreiheit und Fremdbestimmung führen, liegt an den gesellschaftlich bestimmten Vorgaben der Wissenschafts- und Technikentwicklung. Im entwickelten Kapitalismus führt dies dazu, dass die Wissenschafts- und Technikentwicklung zur Materialisierung von Herrschaft im technischen Artefakt und ihrer Ausweitung und Absicherung und zur Ausweitung der Sphäre der Kapitalakkumulation genutzt werden. Insbesondere den Natur- und Technikwissenschaften kommt dabei sowohl eine materielle als auch eine ideologische Funktion im Sinn der MachtakteurInnen zu. Gleichzeitig sind sie aber auch durch ihre Bedeutung für die Richtung der Veränderungsprozesse der Produktionssphäre Schauplatz von Auseinandersetzungen und Konkurrenz unter diesen AkteurInnen. Jede Bewegung zur Befreiung der Menschen muss sich deshalb notwendigerweise dieser Struktur entgegenstellen und die Fragen beantworten, welche Wissenschafts- und Technologieentwicklung wir wollen, brauchen, und wie wir diese durchsetzen.

Wir erleben zurzeit die Herausbildung einer neuen Stufe der Kapitalakkumulation, einer grundlegenden Umwälzung der Kapital- und Produktionsverhältnisse. Dies ist kein momentaner Prozess, sondern eine Entwicklung, die bereits seit den 1970er-Jahren stattfindet. Zentral sind dabei auf der einen Seite neue finanz- und wirtschaftspolitische Regulierungen und die Globalisierung der Kapital- und Produktionssphäre, und auf der anderen Seite die Entwicklung des Digitalkapitalismus´, vom Microsoft und Alphabet über Uber bis hin zu Amazon, um nur einige der bekanntesten Konzernakteure zu nennen. Der Ökonom Joseph A. Schumpeter fasste derartige Umbrüche zwischen unterschiedlichen Stufen der Kapitalakkumulation unter dem Begriff der 'kreativen Zerstörung'. Bestehende Akkumulationsregime geraten notwendigerweise nach einer gewissen Zeit in eine Situation, in welcher der erwirtschaftbare Mehrwert für die KapitalbesitzerInnen sinkt, auf der einen Seite durch unter ihren Bedingungen erkämpfte soziale Rechte, und auf der anderen Seite durch Prozesse der Marktsättigung für ihre Produkte. Im Industriekapitalismus trat dieser Punkt im Laufe der 1960er-/1970er-Jahre ein. Durch Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Organisation erkämpfte Löhne und Sozialleistungen schmälerten zunehmend den Gewinn, gleichzeitig wurde für immer mehr der produzierten Industrieprodukte die Marktsättigung erreicht, sodass eine Erhöhung des Outputs nur noch auf Kosten der Konkurrenz stattfinden konnte und darüber wiederum die Preise unter Druck gerieten. Die zentralen MachtakteurInnen reagierten auf diese Krise zuerst mit dem Versuch von Marktausweitungen durch Globalisierung (EU / Welthandelsorganisation-Vertragssysteme) und zum Teil auch mit dem Versuch der staatlichen Steuerung durch Quoten (Stahl / Milch). Diese Instrumente waren aber nur Übergangslösungen, da die Marktsättigung ein globales Phänomen war. Entsprechend bildeten sich zwischen den 1980er-Jahren und heute von der Kapitalseite aus betriebene neue Strukturen in der Produktionssphäre heraus. Das Kapital wurde flexibilisiert und von konkreten Produktionszusammenhängen entkoppelt. Neu durchgesetzte und global in überstaatlichen Verträgen verankerte Finanzinstrumente und Besitzregime bei gleichzeitiger weitgehender Reduzierung von Transaktionskosten machten es den KapitalbesitzerInnen möglich, ihr Anlagekapital kurzfristig flexibel umzuschichten. Diese Reduktion der Transaktionskosten basierte dabei sowohl auf Veränderungen im Steuerrecht, als auch auf den durch die Digitalisierung und darauf zugeschnittene Rechtsneuschöpfungen ermöglichten neuen materiell-virtuellen Transaktionsstrukturen. Gleichzeitig wurden die globalen Vertragssysteme zugunsten der Kapitalseite erweitert, sodass nun Standorte gegeneinander ausgespielt werden konnten. Und ab den 1990er-Jahren ermöglichte die Digitalisierung eine weitgehende Zerschlagung bisheriger Produktionssysteme und die Schwächung der mit ihnen verknüpften Gewerkschaftsstrukturen und sozialen Absicherungssysteme, sowie ihren Ersatz durch neue, hochgradig flexibilisierte Konzernstrukturen. Dieser sich entwickelnde Digital- und Finanzkapitalismus zeichnet sich unter anderem aus durch:

- Die Trennung von Konzernholding und konkreten Produktionseinheiten: Der größte Teil der Produktion findet nicht mehr in konzerneigenen Betrieben statt, sondern ausgelagert über ein weites Netzwerk von Zulieferern, die untereinander in Konkurrenz stehen und austauschbar sind.

- Neuartige Besitzstrukturen: Die KapitalbesitzerInnen sind in der Regel nicht mehr BesitzerInnen, bzw. MitbesitzerInnen einer spezifischen Firma, sondern halten Kapitalanteile an einem Investmentfonds, welche dieser kurzfristig je nach Marktanalyse umschichtet, um ein Ertragsmaximum zu garantieren. Für die KapitalbesitzerInnen und Investmentfonds ist es deshalb nicht mehr von Interesse, ein bestimmtes Unternehmen oder eine bestimmte Region zu stabilisieren. Die Kapitalrendite ist davon völlig entkoppelt, relevant sind soziale, ökologische oder andere Zusammenbruchszenarien nur als Risikofaktoren, die bei der Kapitalanlage eingepreist werden müssen, wofür es dann wieder spezifische Kapitalmarktprodukte gibt, mit denen sich ebenfalls Gewinn erwirtschaften lässt.

- Die Abwälzung der Kosten für Markt- und Nachfrageschwankungen auf untergeordnete, vollständig abhängige, im Detail kontrollierte, aber formal selbstständige SubunternehmerInnen bzw. außertariflich Beschäftigte (FranchiseunternehmerInnen / 'Selbstständige' / UberfahrerInnen / Zeitarbeit /...) durch eine Umstrukturierung der Firmenstrukturen und Beschäftigungsverhältnisse.

- Hohe Kapitalkonzentrationen unter der Kontrolle einer kleinen Gruppe von AkteurInnen: Durch hohen Anfangskapitaleinsatz, als Risikokapital, die Nutzung neuer technischer Entwicklungen (z. B. Gentechnik / Internet /...) und die Durchsetzung neuer Rechtsstrukturen, durch die gezielte Beeinflussung der Rechtsetzungsverfahren (z. B. TRIPS / Ausweitung Patentrechte / Genpatente / Anti-Taxi-Pro-Uber-Gesetze / ...) gelingt es den global agierenden FinanzakteurInnen des Digital- und Finanzkapitalismus, einen Machtüberhang gegenüber lokalen und regionalen AkteurInnen aufzubauen. Dieser wird genutzt, um lokale Strukturen zu zerschlagen und durch global kontrollierte und strukturierte, lokal monopolartige Strukturen zu ersetzen. Typische Beispiele sind hier Uber oder Amazon, Konzerne, die über Jahre riesige Verluste eingefahren und keine Kapitalrendite erwirtschaftet haben, sondern das Geld dazu genutzt haben, lokale Strukturen und KonkurrentInnen in den Bankrott zu treiben. Für die Kapitalseite war dies mit dem Versprechen verbunden, langfristig eine Struktur mit steigendem Aktienwert und nach Durchsetzung der monopolartigen Strukturen auch hohen Renditen aufzubauen. Zumindest im Fall Amazon wurde dies auch verwirklicht. Den lokalen AkteurInnen wird dabei der Zugriff auf ihre Strukturen der Produktion und Reproduktion entzogen. Diese werden ihnen danach – für die KapitalakteurInnen gewinnbringend – vermietet (Stichworte: Zerschlagung Klein- und Einzelhandel / Unterminierung des öffentlichen Nahverkehrs / Landgrabbing / Immobilienspekulation / Fischereirechte als Anlagekapital / Wasserrechte als Anlagekapital / Genetik-Saatgut / Monopolisierung Software / Cloud-computing / Verschmutzungsrechte als Anlagekapital /...).

Wichtig ist, zu begreifen, dass es sich hier nicht um notwendige Entwicklungen, sondern um gezielt durch Rechtsveränderungen, technische Entwicklungen, politische Entscheidungsprozesse, Softpower (Ideologisches Marketing) und gezielten Kapitaleinsatz durchgesetzte Entwicklungen im Interesse der Profitmaximierung handelt. Die Veränderung der Rechtslage auf internationaler Ebene und die neuen Finanzinstrumente, die diese Form globalisierter Wirtschaft überhaupt erst ermöglichen, sind hier ebenso wichtig wie die Digitalisierung, ohne die eine Steuerung dieser Finanztransaktionen anhand von Risikomanagement, das auf umfangreichen globalen und regionalen Datenerhebungen (Klima / Bevölkerungsentwicklung / Politische Risikofaktoren / Preisentwicklungen Rohstoffe / ...) basiert, gar nicht möglich wäre und ohne die auch die neuen Unternehmensstrukturen nicht umsetzbar wären. Trotzdem steht dahinter keine Gruppe konkreter VerschwörerInnen oder dergleichen, sondern hier setzen sich, in einem von vielfältigen Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten geprägten Prozess, die Interessen der Kapitalseite deshalb durch, weil das Kapital im Kapitalismus immer zu Strukturen treibt, die langfristig die besseren Bedingungen der Mehrwertabschöpfung versprechen. Die genannten Strukturen Landgrabbing, Immobilienspekulation, Fischereirechte als Anlagekapital, Wasserrechte als Anlagekapital, Genetifizierung Saatgut, Monopolisierung Software, Cloudcomputing, Verschmutzungsrechte als Anlagekapital, ... setzen sich durch, weil sie durch die gigantischen Kapitalzuflüsse in der Lage sind, die Konkurrenz an die Wand zu drängen und gleichzeitig ein Druck auf die in Standortkonkurrenz agierenden Staaten entsteht, diesem Kapital günstige Anlagebedingungen zu schaffen.

Unter einem etwas anderen Blickwinkel können diese Prozesse auch als doppelte Enteignung der Wirklichkeit gefasst werden:

Erstens bezogen auf die materielle und äußere soziale Realität als eine Art neuer digitaler Kolonialismus der kapitalistischen Metropolen gegenüber der Peripherie, als Praxis der Zerstörung, Enteignung und Aneignung bzw. Überformung lokaler Strukturen, sei es in Ländern der Peripherie oder in der inländischen Peripherie durch die AkteurInnen des Digital- und Finanzkapitalismus´.

Ein Beispiel dafür ist das Landgrabbing durch Investmentkonzerne oder Einzelkapitalisten wie Bill Gates, der die Einzelperson mit dem größten Landbesitz in den USA ist. Landgrabbing ist sowohl in Afrika als auch in den ländlich geprägten Staaten der USA ein Problem. Verknüpft wird dies mit einer hochtechnisierten (Gentechnik / Digitaltechnik / Pharma)-Landwirtschaft, die auf optimale Erträge und Gewinne abgestimmt ist und häufig von FinanzakteurInnen betrieben wird, die in allen Bereichen gleichzeitig investiert haben: in hochtechnisierte Landwirtschaftstechnik, Gentechnik, Pharma und teils auch noch in neu strukturierte Vertriebsketten. Dabei bilden sich Oligopole heraus, lokale mittelständische Strukturen (Reparaturbetriebe / Saatgut / Handel) verlieren ihre Kundschaft; mittelgroße Städte, z. B. in den sogenannten Flyover-Staaten in der Mitte der USA, verarmen und sind nicht mehr in der Lage, ihre Infrastruktur zu finanzieren, da die großindustriellen Landwirtschaftsbetriebe ihre eigene, stark digitalisierte Infrastruktur nutzen, mit Zentralen in den Metropolen der West- und Ostküstenstaaten. Ganze Regionen verlieren ihre Existenzbasis. Verknüpft wird dies in den USA zunehmend mit Aufkauf von Wasserrechten durch dieselben FinanzakteurInnen, die Kontrolle von Saatgut und Vertriebswegen. Für viele vor Ort bleibt nur der Wegzug oder das Amazon-Vertriebslager als Arbeitsplatz und Lager – ist angesichts der Arbeitsbedingungen mit digitaler Totalüberwachung der treffendste Begriff für den Amazon-Arbeitsplatz. Unter Berücksichtigung des Faktums, dass die demokratische Partei heute die Partei des Digital- und Finanzkapitalismus´ in den USA ist, und Trump als Populist explizit gegen diesen auftrat, ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen in diesen Flyover-Staaten teils zu 80 % Trump gewählt haben, obwohl er realpolitisch keine Alternative dargestellt hat. Die demokratische Partei der USA ist heute eine Partei von PolitikerInnen, die in ihrer Mehrheit, mit Ausnahme des linken Flügels, im In- und Ausland mit dem Digital- und Finanzkapitalismus ein neokoloniales Projekt vorantreiben, mit den West- und Ostküstenmetropolen als kapitalistischen Zentren.

Von unterschiedlichen AutorInnen wird ein Teil dieser neuen Form der Ausbeutungsregime, insbesondere mit Bezug auf Afrika, unter dem Begriff Data-Colonialism analysiert. Ähnlich wie beim klassischen Kolonialismus ist die kartografische datenmäßige Erfassung aber nur der erste Schritt, die Grundvoraussetzung für die Aneignung bisher nicht (oder zumindest nicht vom globalen Kapitalismus) erfasster Bereiche. Und vergleichbare Entwicklungen dieser Art von Daten-Kolonialismus finden nicht nur in Afrika, sondern auch in den ländlichen Regionen der USA und anderswo statt. Hier wurde im Gegensatz zu diesen Texten deshalb der Begriff digitaler Kolonialismus gewählt, da er das Geschehen besser fasst als der Begriff des Daten-Kolonialismus, weil es eben nicht nur um die Herrschaft über die Daten geht, sondern um die Frage der Kontrolle der gesamten digitalen Infrastruktur, denn durch Cloudcomputing und Softwarepatente, plus die Weigerung, Softwarepakete zu verkaufen und die Entscheidung, diese ausschließlich zu leasen, werden neokoloniale Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie nicht nur bezüglich der Verfügung über die Daten geschaffen. Darüber hinaus ist der digitale Zugriff auf die äußere Realität immer im Kontext des finanzkapitalistischen Zugriffs und der Veränderungen in den Rechtsetzungspraxen zu betrachten. Das Landgrabbing und die Strukturveränderungen in der Landwirtschaft, die ohne die entsprechenden Daten über Klima, globale Ernteprognosen und Nachfrageerwartung für spezifische Anbauprodukte sowie die digitale Steuerung der großindustriellen Landwirtschaft nicht realisierbar wäre, sind nur ein Beispiel unter vielen für die Verschärfungen der Ausbeutungsbedingungen und Zugriffsstrukturen auf die äußere Realität. Dazu sei nur auf Uber (Zerstörung des mittelständischen Taxigewerbes) oder Amazon (Zerstörung des lokalen Handels) verwiesen, und diese beiden Beispiele ließen sich um viele weitere ergänzen. Auch für Uber und Amazon gehört die Nutzung des Datenmonopols und der digitalen Dominanz zum Kern ihrer Mehrwertabschöpfungsstrategie. Amazon nutzt diesen Zugriff z. B. zur Auswertung der Handelserfolge kleiner HändlerInnen auf dem Amazon-Marketplace, um diese HändlerInnen im Falle erfolgreicher Produkte durch Ergänzungen des Amazon-Angebots aus dem Geschäft zu drängen.

Diesem auf die äußere Realität bezogenen digitalen Kolonialismus läuft, als zweite Form der Enteignung, eine innere digitale Kolonialisierung der Subjekte parallel. Während es im Fall des auf die äußere Realität bezogenen digitalen Kolonialismus´ zumeist um die Neustrukturierung zumindest bereits peripher in die kapitalistischen Verwertungsprozesse eingebundener Bereiche geht, um die Mehrwertabschöpfung zu optimieren, geht es bei der auf die Menschen bezogenen inneren Kolonialisierung um das, was als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet wird, den Zugriff auf einen bisher nicht der kapitalistischen Verwertungslogik unterstellten Bereich, seine Überformung als Ressource für den kapitalistischen Verwertungsprozess. Und auch hier gilt wieder, dass der erste Schritt die kartografische datenmäßige Erfassung darstellt, als Grundvoraussetzung der Aneignung bisher nicht vom Kapitalismus erfasster Bereiche. Jene Aufgabe fällt in diesem Bereich Konzernen wie Facebook, Twitter und Alphabet zu, in Kombination mit der Ausweitung des Datenzugriffs auf die Subjekte in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft bis hin zur elektronischen 'Gesundheits'karte.

Mit Jean Baudrillard lässt sich außerdem für diese zweite Form der Enteignung auch feststellen, dass sie dazu führt, dass die Realität durch ihre virtuelle Abbildung überlagert wird. Ein Prozess der bewirkt, dass die virtuelle 'Realität' für viele eine stärkere Wirklichkeit erlangt als die Realität selbst, und diese dadurch zum Verschwinden bringt. Anstelle der eigenen Wirklichkeitserfahrung tritt die vermittelte, gefilterte, des Netzes. Baudrillard nennt dies das perfekte Verbrechen, das Opfer, die Realität, die Wirklichkeit, wird im Prozess ihrer Ermordung unsichtbar. In dieser Weltanschauung gibt es kein wirkliches Begreifen der Wirklichkeit mehr, und in der Folge ist auch keine wirkliche argumentative Auseinandersetzung über diese mehr möglich, es gibt nur noch die maschinell-mathematischen Ersatzwelten im Computer. Im Fall des Blicks auf die Seuche wurden diese Ersatzwelten von den Statistiken mit ihren Inzidenzwerten und Fallzahlen bestimmt, welche die Realität überlagerten, vorgaben, diese abzubilden, ohne den geringsten Begriff davon, was Sinn und Leben ausmacht, und die als wirklicher als die Realität wahrgenommen wurden, hyperreale Simulacren, die an die Stelle der Realität traten.

Ein glücklicher Moment kann aber mehr bedeuten als ein langes Leben. Der Rekurs auf das lange Leben und quantitativ messbare Dinge steht gerade nicht für das Glück der Menschen, sondern für die Verwertungslogik des Kapitalismus´, denn hier ist jede Halbtote als KonsumentIn teurer Pflegedienstleistungen wertvoll und steigert das Bruttosozialprodukt, unabhängig vom Leid, das bestimmte Formen der erzwungenen Lebensverlängerung für die so entmündigt Traktierten bedeuten. Und diese Aussage steht auch nicht im Widerspruch zur Vernachlässigung dieser Pflegebedürftigen, dient doch beides der (Kapital-) Gewinnmaximierung.

Dass das statistische Denken dabei auf Einzelne bezogen wird, ist nicht nur irreal und ignoriert nicht nur quantitativ nicht erfassbare Lebensrealitäten, es ist auch mathematischer Unsinn. Ein für eine größere Gruppe festgestelltes statistisches Gesundheitsrisiko kann nicht in ein Risiko für Einzelne umgerechnet werden.

Dazu ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, wir hätten 100 Würfel mit unterschiedlichen Zahlenkombinationen, die auf ihnen abgebildet sind, Würfel, auf denen nur die Zahl 6 auf allen Seiten steht, Würfel auf denen die Zahlen 1 bis 5 auf den sechs Seiten stehen, Würfel mit einer 1 auf drei oder vier Seiten usw. Wir führen nun 1000 Würfe mit diesen 100 Würfeln durch, und werten diese Würfe statistisch aus. Ein mögliches Ergebnis wäre beispielsweise, dass wir nur in 2 % der Fälle eine 6 würfeln. Das wäre z. B. der Fall, wenn unter allen 100 Würfeln 2 wären, die eine 6 auf allen Seiten hätten, und sich unter den restlichen 98 Würfeln sich nur Würfel befänden, die auf allen Seiten lediglich Zahlen zwischen 1 bis 5 abgebildet hätten. Übertrage ich dieses Ergebnis auf einzelne Würfel, z. B. auf einen der beiden Würfel mit einer 6 auf allen Seiten, wird augenblicklich deutlich, dass dies mathematischer Unsinn ist, da für diesen Einzelwürfel, die Wahrscheinlichkeit eine 6 zu würfeln, nicht bei 2 % liegt sondern bei 100 %. Mathematisch ist der Übertrag eines statistischen Wertes auf den Einzelfall nur zulässig, wenn ich völlig identische Einzelfälle habe, also wenn ich in diesem Fall 100 identische Würfel benutzt hätte.

Nun zeichnen sich Menschen aber gerade dadurch aus, dass sie unterschiedlich sind, unterschiedlich leben, handeln, essen, trinken usw. In einer auf Menschen bezogenen Statistik von der Gruppe auf den Einzelfall zu schließen, ist grundsätzlich mathematisch unzulässig, das heißt z. B.: Aufgrund eines statistischen Krebsrisikos von 50 % für eine bestimmte Gruppe von Menschen auf ein statistisches Krebsrisiko von 50 % für Einzelmitglieder dieser Gruppe zu schließen, ist Unsinn und beweist nur die wissenschaftliche Inkompetenz derjenigen, die derart argumentieren. Das Gleiche gilt bezogen auf die Diskussionen im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19: Es ist nicht möglich, für eine Maßnahme, die unter Public-Health-Gesichtspunkten, also bezogen auf große Bevölkerungsgruppen, Sinn macht, z. B. eine Impfung unter Abwägung von statistischem Erkrankungs- und Impfschadensrisiko in einer spezifischen Alterskohorte, diese Abwägung auf den Einzelfall zu übertragen. Eine solche Übertragung ist mathematisch nicht zulässig. Im Einzelfall kann eine andere Risikoabschätzung rational sein, z. B. weil die betroffene Person von sich weiß, dass sie eine spezifische seltene Erkrankungen hat, sich anders ernährt und anders lebt als der Durchschnitt, oder bereits schlechte Erfahrungen mit Impfungen gemacht hat. Das heißt, die abweichende Risikoabschätzung kann gerade in Fällen, in denen sich die Betroffene deutlich vom Durchschnitt abhebt, also im obigen Beispiel ein Würfel mit einer 6 auf allen Seiten ist, die richtige rationale Abwägung sein.

Diese Frage zum Umgang und zur Wertung statistischer Daten ist dabei für den gesamten Bereich der inneren digitalen Kolonialisierung nicht trivial, basiert doch fast das gesamte datengenerierte Wissen auf statistischen Auswertungsprozessen. Die Rede von künstlicher Intelligenz ist reine Ideologieproduktion bzw. ein Marketingbegriff, mit Intelligenz haben diese Rechenprozesse nichts zu tun. Ihre Programmierung erfordert dabei natürlich schon Intelligenz, nur im Begriff der künstlichen Intelligenz geht es ja gerade nicht um die Programmierleistung, sondern um die Rechenleistung des Computers, diese ist aber nichts anderes als ein komplexer statistischer Auswertungsprozess. Bei 'lernenden' Algorithmen ist dies ein statistischer Auswertungsprozess, der mit der Zeit durch weitere statistische Auswertungsprozesse optimiert wird. Mit Intelligenz hat auch diese Form des Rechenwesens nichts zu tun, und sie unterliegt demselben Grundfehler, der oben beschrieben wurde, sobald der Prozess benutzt wird, um Aussagen im Einzelfall zu treffen.

Für politische KampagnenorganisatorInnen oder Werbetreibende ist diese Frage irrelevant, sie benutzen die Daten ausschließlich auf große statistische Mengen bezogen. Wenn sie unter 1000 von ihnen als potenzielle WählerInnen oder KonsumentInnen identifizierten Menschen mit ihrer auf den Daten aufgebauten Kampagne 5 so verärgern, dass diese sie nie wieder wählen, bei ihnen nie wieder einkaufen, aber gleichzeitig 20 neue WählerInnen bzw. KonsumentInnen hinzugewinnen, ist die Kampagne ein Erfolg. Der Einzelfall ist für sie irrelevant. Deshalb sind diese statistischen Auswertungen für sie real Geld wert.

Irrational und asozial wird es aber, sobald diese Daten verwendet werden, um daraus Schlussfolgerungen bezogen auf den Einzelfall zu treffen. Dies ist aber genau das, was die großen Konzerne des Digital- und Finanzkapitalismus´ zurzeit durchzusetzen versuchen, z. B. durch:

- Computergestützte statistische Verfahren dieser Art, um die Zulassungen zu Hochschulen zu regulieren. Dies ist in den USA bereits angewandte Praxis: In die Ausgangsdaten, die darüber entscheiden, ob eine BewerberIn aufgenommen wird, fließt z. B. die Postleitzahl mit ein. Die Postleitzahl dient dabei letztendlich als Maßstab, der über das Wohngebiet die soziale Lage der BewerberInnen erfasst und so die statistischen besseren Erfolgsaussichten der Angehörigen von Mittel- und Oberschicht in die Bewertung zugunsten dieser Gruppen einfließen lässt, deren Kinder aufgrund der Unterstützung durch das Elternhaus eher in der Lage sind, ein Studium erfolgreich abzuschließen. Dies führt bereits bei der Auswahl der Studierenden zur Diskriminierung der ärmeren Bevölkerungsgruppen und verstärkt damit insbesondere auch die Diskriminierung ohnehin schon diskriminierter Gruppen. Grundsätzlich ist aber nicht die einzelne Information, die in die Wertung einfließt, das Problem, sondern die Diskriminierung von Studierenden aufgrund statistischer Vorurteile. Die Hochschulen sind durch diese Auswahl allerdings durchaus in der Lage, ihre Abschlusserfolgsquoten statistisch zu erhöhen, die wiederum ein wesentlicher Maßstab für staatliche Fördermittel sind, da für die statistische Betrachtung der Einzelfall irrelevant ist.

- Ebenfalls in den USA werden gerade versuchsweise neue Unterrichtsverfahren eingeführt, die weitgehende Formen der Totalüberwachung der SchülerInnen beinhalten, alles statistisch auswerten und, daran orientiert, den SchülerInnen weitere Möglichkeiten eröffnen oder nicht. Die Auswertungen fließen in Persönlichkeitsscores ein, bei denen bisher zumindest nicht ausgeschlossen ist, dass andere Institutionen (z. B. Strafverfolgungsbehörden, Arbeitgeber, Universitäten, Versicherungen, Banken, ...) darauf Zugriff nehmen können. Zurzeit stehen diese Verfahren allerdings stark in der Kritik. Aus Sicht der BefürworterInnen macht diese Totalüberwachung aber schon deshalb Sinn, weil SchülerInnen so lernen, ihr Verhalten frühzeitig im Hinblick auf die Optimierung des Persönlichkeitsscores auszurichten, der später an Universitäten oder bei der Bewerbung entscheidend für die Karriereaussichten sein wird.

- Große Arbeitgeber und Arbeitgeber im Hochlohnbereich in den USA nutzen bereits seit Jahren Dienstleister, die anhand solcher Scorings eine Vorauswahl unter BewerberInnen treffen. Hier muss auf einen weiteren Zusammenhang mit Strukturentwicklungen im Kontext der 'Infektionsschutzpolitiken' verwiesen werden: In den USA sind es vor allem kleine Dienstleister, die Menschen anstellen, welche aufgrund ihrer in Datenbanken hinterlegten Daten auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben. Gerade diese ArbeitgeberInnen wurden aber aufgrund der 'Infektionsschutzpolitik' zur Aufgabe gezwungen und durch Großstrukturen wie Amazon ersetzt. Zusätzlich versuchte Amazon, diese Kleindienstleister durch die Unterstützung einer Kampagne linker AktivistInnen zur Erhöhung des Mindestlohns finanziell zusätzlich unter Druck zu setzen. Da Amazon mit extremen Leistungsanforderungen und extrem belastenden Arbeitsbedingungen eine höhere Produktivität erreicht, sind Gehälter, die geringfügig über dem Mindestlohn liegen, für Amazon kein Problem. Dafür bedarf es dann aber auch der leistungsoptimierten ArbeitnehmerInnen im Waren-Arbeitslager.

- Die statistischen Auswertungen großer Datenmengen finden darüber hinaus zunehmend Anwendung im Bereich der Strafverfolgung und der Behörden, z. B. bei der Suche nach AusländerInnen, die sich ohne legalen Status in den USA aufhalten.

Dies sind aber nur einige Beispiele der den Alltag mehr und mehr durchdringenden Scorings, die z. B. auch bei Kreditvergabe, Anmietung von Wohnungen usw. immer relevanter werden. Noch einmal ist zu betonen, dass nicht die falsche Ausrichtung dieser Scorings oder einzelne Fehlzuweisungen das Problem sind, sondern die Zuweisung von Lebenschancen aufgrund statistisch generierter Vorurteile. Letztendlich wird z. B. im Fall 'verdächtiger' Daten die Unschuldsvermutung, welche ein Grundstein der Rechtsentwicklung ist, außer Kraft gesetzt: Menschen sind nun so lange verdächtig und werden ausgeschlossen, wie sie nicht dafür Sorge tragen, dass ihre Daten sie als unverdächtig erscheinen lassen. Damit droht die Gefahr, dass ein System nach Art der Rassenlehre und der rassistischen Segregation entsteht, bei dem Menschen aufgrund ihrer Datensätze diskriminiert, in Slums abgedrängt und dann aufgrund der damit generierten Daten noch stärker abgewertet werden, und ihnen jegliche Möglichkeit genommen wird, aus diesen selbstverstärkenden Zirkeln zu entkommen. Ein System, das die Dystopien der Filme Gattaca und Minority Report miteinander verbindet, nur nicht auf biologische Daten bezogen, sondern auf umfassendere Datenstrings. Letztendlich werden dadurch die statistischen Zuweisungen, vergleichbar rassistischen Zuweisungen zur Selffulfilling Prophecy, zu einer Voraussage, die durch die Diskriminierung, welche sie bewirkt, selbst zur wesentlichen Ursache ihres Eintretens wird. Die Technologie, Menschen als Datenstrings zu fassen, ist aus diesem Grund zu Recht als eine Technologie nach Art der Rassenbiologie zu bezeichnen. Menschen mit negativen Datenscores werden in der Regel nie eine Chance erhalten, zu beweisen, dass die Zuweisung falsch ist. Die wenigen, die es trotzdem schaffen, ihrem Datenschicksal zu entfliehen, werden im Höchstfall als Fälle falscher Datenerhebung betrachtet werden. Dies wird aber nicht zur grundsätzlichen Infragestellung eines menschenverachtenden Systems führen, sondern eher zu der Schlussfolgerung, dass noch mehr Daten erhoben werden müssen, um solche Irrtümer zu vermeiden. Diese Technologie ist ein materialisiertes, sich selbst perpetuierendes Wahnsystem.

Für den Digital- und Finanzkapitalismus liegt der Sinn jener Technologie nicht unwesentlich gerade in dieser Wirkung, die ein System von Hierarchien und Ausbeutungsverhältnissen mit neuer Legitimität ausstattet. Die Technologie wirkt damit stark sozial segregierenden Ausbildungssystemen vergleichbar, für die Ivan Illich, als linker Kritiker totaler Institutionen, bereits in den 1970er-Jahren festgestellt hat, dass diese Ausbildungssysteme Hierarchien nicht auflösen, sondern reproduzieren und legitimieren, sodass selbst die Unterdrückten zu dem Schluss kommen, ihre Position sei auf die eigene Inkompetenz zurückzuführen. Ähnlich besteht durch die Sozialisation in den statistischen Wertungssystemen die Gefahr, dass die Menschen diese Wertungen als legitime Zuweisung verinnerlichen, und dabei ihr Bewusstsein bis in den Kern ihrer eigenen Subjektivität und Selbstwahrnehmung hinein von entfremdeten Machtsystemen bestimmt wird. Eine strukturelle Form der Subjektkonstitution, die aus anderen Diskriminierungs- und Gewaltverhältnissen (z. B. Sexismus und Rassismus) bekannt ist, und wesentlich zur Schwierigkeit der Überwindung dieser Gewaltverhältnisse beiträgt. Aufgelöst wird bei diesem datengestützten Gewaltzugriff auf die Subjekte auch, vergleichbar wie für Frauen in patriarchalen Gesellschaften, die Trennung von privat und öffentlich. Für die Erfassung und die mit ihr einhergehenden Zugriffe gibt es keine Grenzen. Die bessergestellten Gruppen der Gesellschaft werden sich Möglichkeiten schaffen, ihre Daten zu schützen und die Datenschutz-Features des Apple I-Phone im Gegensatz zu billigen; Smartphones anderer Anbieter weisen bereits in diese Richtung. Darüber hinaus wird es für die, welche es sich leisten können, Agenturen geben, die professionell eine Datenimagepflege übernehmen, eine Dienstleitungsindustrie, die bereits im Aufbau ist.

In der EU steht für diese Entwicklung der 'Vorschlag für eine VERORDNUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES ZUR FESTLEGUNG HARMONISIERTER VORSCHRIFTEN FÜR KÜNSTLICHE INTELLIGENZ (GESETZ ÜBER KÜNSTLICHE INTELLIGENZ) UND ZUR ÄNDERUNG BESTIMMTER RECHTSAKTE DER UNION', der im Frühjahr 2021 publiziert wurde. Die hier zitierten Stellen wurden für diesen Text ins Deutsche übersetzt. Im Gegenteil zur Darstellung in der Öffentlichkeit handelt es sich bei dieser Verordnung mitnichten um eine Vorschrift, die den Schutz von BürgerInnenrechten im Fokus hat, vielmehr wird eine Regulierung entworfen, welche durch juridische Rahmensetzung gerade eine für die IT-Konzerne sichere Basis für die anstehende Ausweitung des Digitalkapitalismus´ und ihren Zugriff auf die Subjekte schafft. Statt die Entwicklung eines Datenrassismus´ zu unterbinden, wird dieser durch eine legale Grundlage gefördert. Was die Ziele dieser Verordnung sind, wird dabei deutlich benannt:


Dabei geht es auch hier unter dem irreführenden Begriff der KI um die bereits beschriebenen Daten gestützten statistischen Segregations- und Herrschaftstechnologien. Konkret im Entwurf genannt werden unter anderen die folgenden Beispiele:


Zwar werden all jene Anwendungen dieser Technologien als hochriskant eingestuft und besondere Sorgfaltspflichten bei ihrer Entwicklung und Anwendung gefordert, vergleichbar ist dies aber den Regulierungen der Atomenergie durch die entsprechenden Verordnungen der EU und internationaler Institutionen oder den Regulierungen des Dampfkesselbaus im 19. Jahrhundert. Das heißt, um dies nochmal hier klar zu benennen, dieser Verordnungsentwurf wurde explizit mit dem Ziel der Förderung dieser Entwicklungen durch Schaffung von Rechtssicherheit und EU-weiter Standards entwickelt. Überdeutlich wird dies insbesondere auch durch die, bereits in der Verordnung abgesicherten erweiterten Zugriffsbefugnisse für die EntwicklerInnen dieser Systeme, welche bestehende Datenschutzstandards unterlaufen:



Dies alles zu sehen ist wesentlich, um zu begreifen, warum die Politiken im Kontext der Covid-19-Epidemie aus einer linken, antiautoritären emanzipatorischen Perspektive notwendig kritisiert werden müssen. Der mit dem 'Infektionsschutz' begründete Ausnahmezustand im Rahmen der Epidemie wurde genutzt, um diese Prozesse zu beschleunigen. Dies betrifft die Ausweitung der datengestützten Überwachung der Subjekte, starke Digitalisierungsschübe im Ausbildungs-, Kommunikations- und Sozialbereich, neue und erweiterte Datenzugriffe im Gesundheitsbereich, die Umstrukturierung von Wirtschaftsstrukturen zugunsten des Digital- und Finanzkapitalismus´ (z.B Amazon), die Stärkung der digitalen Erlösungserzählungen in den Medien und der Öffentlichkeit, präsentiert von Aposteln dieses Gesellschaftsumbruchs aus den sich selbst als Elite verstehenden Zirkeln der großen Digitalkonzerne u. a. Parallel dazu wurde durch die 'Infektionsschutzmaßnahmen' auch die Entfremdung vom eigenen Körper weiter verschärft, der nun noch mehr als etwas erschien, das der fremdbestimmten ärztlichen Überwachung bedarf. Statt der Sorge um sich selbst und andere, der Umsetzung von Politiken der gegenseitigen Rücksichtnahme, wurden Kontrollpolitiken verschärft und das Subjekt noch weiter entmündigt und verohnmächtigt. Dabei ist klar festzuhalten, dass sachlich kaum zu rechtfertigen ist, Geschäften selbst mit Auflagen nicht zu erlauben zu öffnen und gleichzeitig einen Dienstleister wie Amazon, der miserabel ausgerüstete, überlastete Dienstleister in einer Hochinfektionslage kreuz und quer durch die Gegend schickt, nicht einzuschränken. Dies war eine politische Lobbyentscheidung zugunsten Amazons und zuungunsten der lokalen Geschäfte und der Bevölkerungsgruppe, welche diese Dienstleistungen überwiegend erbringt und entsprechend stärker von Infektionen betroffen war. Natürlich hätte es Alternativen gegeben. Die Mehrheit in der Politik hat die Infektionslage aber offensichtlich als Chance gesehen, den Gesellschaftsumbruch hin zur Ausweitung des Digital- und Finanzkapitalismus´, der in diesen Zirkeln scheinbar als alternativlos angesehen wird, unter Ausschaltung jeglicher Opposition durch die Notstandsargumentation weiter voranzutreiben. Auch die Politik der Delegitimierung der Verwendung von Bargeld, obwohl bekannt war, dass Bargeld nicht im relevanten Maß zur Infektionsübertragung beiträgt, verweist deutlich auf das politische Wollen im Hintergrund. Das Problem der 'Infektionsschutzpolitik' bestand nicht primär in ungerecht-fertigten zeitweiligen Aussetzungen von Grundrechten oder dem repressiven Umgang mit abweichenden Meinungen, das ist sicher zu kritisieren, aber dies gab es auch in anderen Situationen, z. B. dem Kalten Herbst, der 'TerroristInnenverfolgung' der 1970er-Jahre oder während der KommunistInnenverfolgungen der 1950er-/1960er-Jahre, und zwar in einer repressiveren Variante als 2020/21. Das zentral an der 'Infektionsschutzpolitik' zu Kritisierende ist, dass sie instrumentell für den Gesellschaftsumbau hin zur Ausweitung der Zugriffe des Digital- und Finanzkapitalismus´ wie oben dargestellt benutzt wurde, mit der Gefahr langfristiger zerstörerischer Folgen für die Gesellschaft, denen gegenüber die Gefahren durch Covid-19 nur als Fußnote der Geschichte erscheinen werden. Zudem ist zu befürchten, dass mit der Steuerung der Diskurse zur Klimakatastrophe bereits die nächste Begründung für den weiteren Gesellschaftsumbau in dieser Richtung aufgebaut wird. Der Ausbau des digital- und finanzkapitalistischen Regimes wird aber nicht nur mehr Menschen noch weiter in Unfreiheit treiben, sondern durch die mit diesem Regime verknüpfte Wachstumslogik auch keine Lösung für die reale ökologische Katastrophe darstellen, die nicht nur das Klima, sondern Wasserressourcen, den Zusammenbruch der Artenvielfalt und vieles mehr umfasst. Durch die Verknüpfung der Klimapolitik mit diesem zugespitzten technokratischen Ausbeutungsregime droht im Gegenteil zusätzlich die völlige Delegitimierung jeglicher Politik zur Lösung dieser Probleme. Für die antiautoritäre Linke ist es unabdingbar, die politischen Fehler linker AkteurInnen im Kontext der 'Infektionsschutzpolitik' zu begreifen und zu analysieren, wie diese zustande gekommen sind, um sie nicht zu wiederholen, insbesondere die weitgehende unkritische Übernahme der 'Notstandspolitiken wie im Kriegszustand'.

Vollständig absurd wird es, wenn Menschen, die sich linken politischen Strömungen zuordnen, nicht nur keine Kritik üben, sondern sich sogar noch dazu berufen fühlen, die Apostel dieses Digital- und Finanzkapitalismus´ aus der Gruppe der Multimilliardäre der Digitalkonzerne gegen Kritik zu verteidigen, wenn diese aufgrund ihrer Instrumentalisierung der Covid-19-Toten für die Verbreitung ihrer Ideologie und die Durchsetzung ihrer technokratischen Allmachtsfantasien des Gesellschaftsumbaus von GegnerInnen dieser Politiken kritisiert werden. Sicher, Covid-19 wurde nicht gezielt zu diesem Zweck produziert, die Art und Weise jedoch, wie hier Tod,Elend und die Pandemie, von diesen Akteuren ohne auch nur einen Moment des Zögerns zur Durchsetzung der eigenen Interessen und um sich wichtig zu machen genutzt wurde und wird, ist aber derartig asozial, dass diese sich nicht wundern müssen, wenn sie nach der Logik "Wem nutzt es? / Wer nutzt es aus?" dadurch in den Fokus von Verschwörungsmythen geraten. Wer sich wie ein Versicherungsvertreter benimmt, der eine Beerdigung für eine gute Gelegenheit hält, den Hinterbliebenen Sterbeversicherungen aufzuschwatzen, die er bisher nicht losgeworden ist, hat kein Recht, sich über ungerechte Anfeindungen der Trauernden zu beschweren.

Zu berücksichtigen ist bei dieser Analyse jedoch, dass auch diese Gruppe der Multimilliardäre, so viel Geld sie auch immer haben mögen, eher Agenten der Macht als ihre Meister sind, sie haben sich vollständig zu Sklaven ihrer eigenen Weltanschauung gemacht. Das Problem mit diesen Akteuren ist, dass sie in der Regel gerade nicht, zumindest nicht bewusst, aus Egoismus oder aus Bösartigkeit handeln, dann könnte man mit ihnen rational über Interessenausgleich diskutieren, sondern aus Überzeugung, basierend auf völliger Ignoranz gegenüber den von ihnen verursachten sozialen Realitäten. Dabei bedienen ihre Forderungen gleichzeitig 'ganz zufälligerweise' ihre Interessen, aber das führen sie selbst darauf zurück, dass sie das 'Richtige' tun.

Dass dieses Verhalten zentraler Akteure des Digital- und Finanzkapitalismus´ dann unter von den ausgelösten Umbrüchen Betroffenen zu Verschwörungstheorien führt, ist wiederum mit der konkreten Situation dieser Betroffenen zu erklären. Unter den gegebenen Verhältnissen und Subjektidentitäten führt die Zuspitzung der Krisenlage zu Verschwörungstheorien und Irrationalität, weil die linken kritischen Analysen von vornherein verworfen werden. Da eine grundsätzlich Infragestellung des Systems, oder von 'Werten' wie Leistungswahn, Konkurrenzideologie, Autoritäts- und Hierarchiemustern oder Fortschrittsideologie tabu ist, würde sie doch die Infragestellung der Selbstdefinition dieser Menschen erfordern; in einer Situation in der diese ohnehin verunsichert sind – und so werden stattdessen die Mauern eher noch mehr hochgezogen. Mangels struktureller Analysemöglichkeiten aufgrund dieses Tabus der Infragestellung des Systems bleibt dann nur nach den/dem Bösen zu suchen, die/das Schuld ist. Die Verständigung über komplexe Analysen wird viel Arbeit erfordern und nie alle erreichen – und auch die Verständigung über Teilaspekte sollte als Erfolg begriffen werden. Unterdrückte sind nicht deshalb, weil sie unterdrückt sind, die besseren und reflektierteren Menschen, sie können auch überzeugte RassistInnen oder Rechte sein. Aber die meisten Menschen sind vor allem eines: in sich widersprüchlich.

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05-5 - Rekurs - Kean Birch

- Neue Formen der Inbesitznahme, Wertzuweisung und Abschöpfung von Mehrwert als Grundlage des Versprechens eines nachhaltigen Wachstums kapitalistischer Kapitalakkumulation -


Unter Rekurs auf Kean Birch, einen Wissenschaftler, der sich kritisch mit Entwicklungen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Technologie und Finanzkapitalismus auseinandersetzt, soll im Folgenden ein Prozess, der in der aktuellen neuen Stufe der Kapitalakkumulation immer mehr Bedeutung gewinnt, in seiner Funktionsweise etwas detaillierter analysiert werden, der Prozess der Assetisierung (assetization). Dazu greift dieser Textabschnitt auf zwei Aufsätze von Kean Birch zur Analyse der Bio-Ökonomie zurück: Auf den Text 'Wert in der Bioökonomie neu denken: Finanzen, Assetisierung und Wertmanagement' und den Text 'Nachhaltiges Kapital? Die Neoliberalisierung von Natur und Wissen in der europäischen "Wissensbasierten Bioökonomie."' Die von Birch dabei für die Bioökonomie entwickelten Analysen sind nicht nur für diese zutreffend, sondern für weite Bereiche des Digital- und Finanzkapitalismus´. Die zitierten Abschnitte wurden für diesen Text aus dem Englischen übersetzt. Als 'Assets' werden von Birch dabei Kapitalarten gefasst, die eine kontinuierliche Einnahme generieren. Klassisch sind das z. B. Immobilien oder Landbesitz, die verpachtet werden. In der aktuellen Stufe der Kapitalakku-mulation gewinnen neben diesen alten Assets jedoch insbesondere Immaterielle Assets an Bedeutung: Dies können Software- oder Genpatente sein, aber auch neue Arten von Rechtsbeständen, wie Verschmutzungsrechte, CO2-Zertifikate usw.


Die Ausweitung der Bedeutung von Assets ist dabei die Basis für das, was Birch als 'techno-knowledge fix' bezeichnet, und dem damit einhergehenden Versprechen der Lösung der aktuellen kapitalistischen Krise. Dabei wird nicht nur die Realisierung eines nachhaltigen Kapitalismus´ versprochen, sondern die Schaffung nachhaltigen Kapitals. Nachhaltig nicht nur in dem Sinn, dass dieses Kapital als Asset dauerhaft Abschöpfungsgewinne garantiert, sondern nachhaltig auch dahingehend, dass durch eine sich immer weiter entwickelnde technologische 'Optimierung' eine unbegrenzte Ausweitung des Kapitalwerts und eine unbegrenzte Steigerung der Mehrwertabschöpfung möglich ist. Ausgangspunkt ist dabei ein Blick auf die Natur, der die natürlichen Abläufe als hochgradig unvollkommen und unter Gesichtspunkten der Verwertung als hochgradig ineffiziente Prozesse begreift, welche der Optimierung durch den Menschen bedürfen.


Auch der Mensch wird dabei als optimierungsbedürftig betrachtet und bedarf in diesem Denken selbst des 'techno-knowledge fix'. Und zu den Naturressourcen, die als Assets durch technologische Manipulation optimierbar sind, gehört unter dieser Politik nicht nur die Pflanzen- und Tierwelt, sondern unter Berücksichtigung der Nanotechnologie und der mit ihr möglichen Einschrift neuer Eigenschaften in Materialien auch die Materie selbst, die als nanotechnologisch optimierte dann auch produzierbar und patentierbar wird. Das Versprechen unendlichen Wachstums basiert dabei in allen Bereichen auf neuen Technologien, die den Zugriff auf Natur und Menschen in den verschiedenen Dimensionen intensivieren, sei es im sehr Kleinen (Nanotechnologie), sei es durch Beschleunigung zeitlicher Prozesse (Gentechnik), sei es durch den Zugriff auf bisher nur partiell für die kapitalistischen Verwertungsprozesse erschlossener Weltregionen (Meere, Wüsten, Arktis, Antarktis) oder durch die immer umfassendere Datenerfassung, die eine immer genauere Prozesssteuerung im Sinne der Mehrwertabschöpfung ermöglichen. Technologien, die alle gleichzeitig zusätzlich durch die Verknüpfung dieser Technologien mit neuen Rechtsetzungspraxen die kapitalistische Aneignung von materiellen und immateriellen Bereichen der Natur und Gesellschaft ermöglichen, die sich bisher nicht im direkten Kapitalzugriff befanden. Beispiele dafür sind z. B. der Zugriff auf die Weltmeere, der Handel mit Verschmutzungsrechten, Genpatente auf Saatgut oder auch der wachsende Markt für Technologien der 'Selbst'optimierung.

Das Versprechen ist dabei immer dasselbe, durch den 'techno-knowledge fix' sollen nicht nur den Mehrwertabschöpfungsprozessen neue Möglichkeiten eröffnet werden, sondern es wird behauptet, die Natur besser als die Natur gestalten zu können – etwas zynisch ließe sich formulieren, das Versprechen ist, die Natur nicht nur produktiver, sondern sie auch natürlicher, als die Natur dies könnte, zu gestalten. Real laufen die genannten Technologien aber alle auf eine Intensivierung des Zugriffs hinaus und weichen von ihrer Grundstruktur her nicht wesentlich von den bisher genutzten Technologien und ihren Zugriffen auf Natur ab, nur dass sie diese in allen Dimensionen noch weiter intensivieren und damit die Erschöpfungszustände durch Übernutzung zeitweilig umgehen können. Zu erwarten ist aber, dass die Probleme damit nur in die neu erschlossenen Bereiche verlagert und damit langfristig sogar verschärft werden. Der immer tiefer gehende Eingriff in komplexe Systeme, ohne hinreichendes Wissen über diese Systeme zu haben, wird zu vergleichbaren Erschöpfungsprozessen und Zerstörungen wie die bisherige technologische Überformung der Welt führen, nur aufgrund der tiefer gehenden Einwirkungen mit noch viel schwieriger zu beherrschenden Folgewirkungen. Tatsächlich könnte der Einsatz dieser Technologie in einer solchen auf unendliches Wachstum der Mehrwertabschöpfung ausgelegten Form dazu führen, dass die Klimakatastrophe zukünftig zum nachrangigen Problem wird. Nicht deshalb, weil sie durch die Technologie bewältigt wurde, sondern weil durch den Einsatz dieser Technologien, ohne wirkliches Wissen um komplexe Folgewirkungen, Probleme geschaffen wurden, gegenüber denen dann selbst die Klimakatastrophe verblasst.

Eine Gefahr dieses technokratischen Lösungsansatzes heutiger Probleme ist dabei insbesondere auch die langfristige tiefgreifende Zerstörung der Resilienz von Natur, Subjekt und Gesellschaft, die Zerstörung der Fähigkeit, sich in Fällen nicht kalkulierter Störungen der Abläufe selbst zu helfen. Die gemanagten und für die Mehrwertabschöpfung und Kapitalinteressen optimierten Systeme, die technokratisch gemanagte Natur, das gemanagte Subjekt und die gemanagte Gesellschaft, drohen in diesem Prozess zunehmend die Fähigkeit zu verlieren, ohne dieses Management überhaupt noch zu überleben. Zusammenbruchszenarien, die immer tiefer und weiter gehen, werden damit im Laufe des Fortschreitens dieser Entwicklungen immer wahrscheinlicher, und gleichzeitig wächst der Zwang, das System aufrechtzuerhalten, egal, zu welchem Preis. Die Basis jeder Form der Resilienz, der Fähigkeit auf Umbrüche, Dysfunktionalitäten und Katastrophen konstruktiv reagieren zu können, ist Vielfalt und Differenz. Es ist das scheinbar Überflüssige, die Dinge, die in der technokratischen Ordnung als Ballast angesehen werden, und das nicht auf Mehrwert ausgerichtete Handeln, das nicht zielgerichtete Denken, das nicht zielgerichtete Fühlen, das in solchen Fällen die Ressource für Neuanfänge ist. Genau diese Vielfalt und Diversität drohen aber durch die Vertiefung und Ausweitung des technokratischen Zugriffs in allen Bereichen verloren zu gehen. Die nach innen gerichtete Wachstumslogik, mit ihrer Überformung von Natur, Subjekt und Gesellschaft in nie dagewesener Form, führt zur massiven Verschärfung der Prozesse der Fremdbestimmung und Entfremdung.

Zum Schluss noch einmal der Rückbezug zur 'Infektionsschutzpolitik', der bereits im letzten Abschnitt dargestellt wurde: Die 'Infektionsschutzpolitik' unter Covid-19 und der damit einhergehende Ausnahmezustand (der Begriff wird hier nicht im juristischen Sinn, sondern als Beschreibung der Realität verwendet) wurden genutzt, um die oben aufgezeigten Entwicklungstendenzen weiter voranzutreiben, als dies ohne Ausnahmezustand möglich gewesen wäre. Der Ausnahmezustand wurde genutzt, um den weitverbreiteten Widerstand gegen diese Entwicklungen zu unterlaufen. Teile der Politik schienen primär diesem Ziel zu dienen und waren für den Infektionsschutz weitgehend irrelevant, insbesondere die starke Fokussierung auf eine Digitalisierung von Prozessen. Außerdem wurde die Ablenkung der Öffentlichkeit genutzt, um diverse Gesetze im Schatten der Virusdiskurse durchzudrücken (Bundesgesetze zu Uber, zu Krankendaten usw.). Das heißt nicht, dass irgendeine Seite dies vorab geplant hätte, die Chance wurde aber gesehen und ergriffen und der Virus ohne Rücksicht für diese Zwecke instrumentalisiert. Dabei war die 'Infektionsschutzpolitik' selbst ein Musterbeispiel für die mit diesen Entwicklungstendenzen untrennbar verbundene, technokratisch postdemokratische Auffassung des Regierens. Eines Regierens, für das Demokratie nicht mehr bedeutet, dass die BürgerInnen bestimmen, sondern in der die politischen Prozesse nur dazu dienen, dass das, was die sich selbst als funktionale technokratische Eliten begreifenden Teile der Mittel- und Oberschicht für richtig erkannt zu haben glauben, in der Durchsetzung legitimatorisch abgesichert wird.

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06 - Naturwissenschaft als Religion

- Die Virusdiskurse unter dem Blickwinkel linker Technologie- und Wissenschaftskritik -




Die dominante Religion unserer Zeit sind die Naturwissenschaften, gerade deshalb, weil sie nicht als solche, sondern als Wahrheit gesehen werden. Eine Religion auf dem Höhepunkt ihrer Macht wird nicht als Religion wahrgenommen. Sie ist einfach die Wahrheit. Sie bestimmt, was als Wirklichkeit akzeptiert und wie es gelesen wird. Für jede kritische Sicht auf die Welt ist zentral zu realisieren, dass nicht nur die Entscheidung, wie ich mit der Wirklichkeit umgehe, sondern auch die Entscheidung, was die Wirklichkeit ist, bzw. was ich als Wirklichkeit wahrnehme, politisch ist. Erkenntnistheoretisch sind unterschiedliche Rahmungen des Blickes, unterschiedliches Blicken, das heißt, die Interpretationen, welche die Realität aus der unspezifischen Wahrnehmung hervorbringen, nicht objektiv in 'wahr' und 'falsch' unterscheidbar. Das heißt nicht, dass es nicht eine objektive Realität gibt, nur sobald wir anfangen, uns diese in Begriffen zu erschließen, folgen wir einem Narrativ, das selbst nicht Teil dieser objektiven Realität ist, sondern der Hintergrund, auf dem wir unser Begreifen organisieren. Und in ein solches Narrativ fließen, da es aus spezifischen Gesellschaftsverhältnissen heraus formuliert wird und mit spezifischen Formen subjektiver Selbstverständnisse einhergeht, z. B. über Geschlechtsidentitäten usw., eine Vielzahl an Einflüssen ein, die nichts mit der eigentlichen Beobachtung zu tun haben. Dies gilt auch für das Narrativ der Naturwissenschaften, in ihr bilden sich die Subjektverhältnisse und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ab und werden in die Theorien eingeschrieben. Detailliert wurde dies in den 1980er- und 1990er-Jahren aus feministisch-kritischer Perspektive für eine Vielzahl naturwissenschaftlicher Theorie-Praxis-Zusammenhänge nachgewiesen. Diejenigen, die sich dafür interessieren, finden einen umfassenden Kanon an Texten im Bereich der Social Studies of Science, z. B. ethnomethodologische Studien zum Ablauf von Forschungsprozessen und zur Konstitution wissenschaftlicher Theorien und Modellierungen. Hier soll nur ein Beispiel aus dem Bereich der Medizin genannt werden, zur Verdeutlichung und weil es für das Thema dieses Textes von Interesse ist, ein Text aus dem Jahr 1999 von Susan Leigh Star und Geoffrey C. Booker 1999 'Aussortieren: Klassifizierung und ihre Folgen' ('Sorting Things Out: Classification And Its Consequences').

In dieser Forschungsarbeit untersuchen die beiden AutorInnen ausführlich Klassifikationssysteme in der Medizin, ihre Untersuchungsgegenstände waren unter anderem die ICD, die 'Internationale Klassifikation der Krankheiten' ('International Classification of Diseases'), und Klassifikationssysteme zur Organisation der Arbeit von KrankenpflegerInnen NIC, die 'Klassifikation der Pflegeinterventionen' ('Nursing Interventions Classification'). Beide Klassifikationssysteme wurden von außen so wahrgenommen, als wären sie von einem übergeordneten Standpunkt der Objektivität und Wertneutralität, orientiert an den sachlichen Fakten, formuliert worden. Real sind diese Klassifikationssysteme aber in vielfältiger Weise in Alltagspraxis und vielfältige Interessen eingebunden, von diesen bestimmt und diese auch wiederum bestimmend. Die AutorInnen zeigen, dass Klassifikationssysteme machtvolle Technologien sind, die zum Beispiel im Fall der Klassifikationssysteme zur Organisation der Arbeit von KrankenpflegerInnen tief in das Verhältnis zu PatientInnen eingreifen, bestimmen, welcher Zeit- und Geldaufwand für die klassifikationsspezifische Intervention als angemessen gilt, festlegen, was überhaupt als Teil der professionellen Arbeit zu werten ist usw. In ihrer Diskussion der ICD – 'Internationale Klassifikation der Krankheiten' – wird deutlich, dass auch in diese im Laufe der Zeit eine Vielfalt an Interessen eingeflossen sind und bis heute einfließen: Verwaltungsinteressen, Ordnungsinteressen, Interessen der Industrie, des Handels, der Versicherungswirtschaft u. a. Alle MachtakteurInnen, die hier ihre Interessen betroffen sehen, z. B. aufgrund verordneter Arbeitsschutzmaßnahmen, Kontrollpflichten im Warenverkehr usw. nehmen über ihre jeweiligen Machtzugänge Einfluss auf dieses medizinische Klassifikationssystem, zum Beispiel die Versicherungswirtschaft auf das Klassifikationssystem der Todesarten, da dieses Klassifikationssystem für die Versicherungswirtschaft finanziell relevant ist. Ein Klassifikationssystem, das spätestens seit Covid-19 allen als zutiefst interessengeleitete Definition vor Augen stehen dürfte, unter Berücksichtigung der Diskussion um den Tod mit oder durch Covid-19, bei fast 50 % Toten, die parallel drei weitere potenziell tödliche Erkrankungen hatten (zumindest bezogen auf die Daten aus Italien). Nehmen wir als Beispiel einen Patienten, der eine schwere Herz-Kreislauf-Erkrankung hatte und an Kreislaufzusammenbruch verstorben ist: Starb er nun an der Herz-Kreislauf-Erkrankung aufgrund der Virusinfektion, oder an der Virusinfektion aufgrund der Herz-Kreislauf-Erkrankung oder vielleicht zu 20 % an der Virusinfektion, zu 30 % an der Herz-Kreislauf-Erkrankung und zu 50 % an unbekannter Ursache, oder war die Virusinfektion irrelevant und er wäre ohnehin gestorben? Und falls die Herz-Kreislauf-Erkrankung durch Fehlernährung verursacht wurde, die wiederum in Geldmangel aufgrund von Harz IV begründet ist, war die Ursache seines Todes dann zu 30 % Harz IV? Im aktuellen von der Mikrobiologie und medizinischen Messapparaten geprägten Blick der Medizin werden Ursachen, die sich in diesen Diskursen fassen lassen, überbewertet bzw. überhaupt erst realisiert, während komplexe soziale Ursachen ausgeblendet werden. Dabei wurde gerade am Beispiel der USA und eines Vergleichs der unterschiedlichen Teilstaaten auch im Kontext Covid-19 deutlich, dass ein erheblicher Teil der ergriffenen, auf die Unterdrückung der Virusverbreitung ausgerichteten 'Infektionsschutzmaßnahmen' offensichtlich nachrangig oder sogar kontraproduktiv war, entscheidend waren die Sozial-, Wohn- und Lebensverhältnisse in den Teilstaaten, weshalb gerade die Regionen unter demokratischen GouverneurInnen mit einem hohem Anteil an städtischer Armutsbevölkerung, trotz extremer 'Infektionsschutzmaßnahmen' die höchsten Todeszahlen zu verzeichnen hatten. Armut tötet, dies gilt auch bei anderen z. B. durch Klimaveränderung verursachten Bedrohungslagen – die Armutsbevölkerung ist weit überproportional betroffen.

Star und Booker fordern entsprechend, Klassifikationssysteme bewusst als Bereiche politischer und ethischer Entscheidungen zu begreifen und entsprechend mit diesen und den Auseinandersetzungen über diese umzugehen. Ausgehend von der Verweigerung der entsprechenden offen politischen Auseinandersetzungen im Kontext Covid-19 sind wir davon jedoch heute, mehr als 20 Jahre später, weiter entfernt als in den 1980er- und 1990er-Jahren. Die Diskurse wurden nicht nur nach außen abgeschlossen, sondern es wurde sogar versucht, die KritikerInnen der Fachdiskurse in der Öffentlichkeit zum Verstummen zu bringen.

Wenn aktuell sich nach eigenem Bekunden kritisch links verortende AktivistInnen unkritisch den Versuch der Etablierung einer neuen-alten eindimensionalen Erzählung wahrer Wahrheit, bezogen auf die aktuelle naturwissenschaftliche Erzählung, mittragen, richten sie nicht nur einen Flurschaden in den Wissenschaften an, sondern weit darüber hinaus, da die Naturwissenschaften das Handeln weiter Teile gesellschaftlicher Institutionen wesentlich bestimmen. Eine Linke, die so agiert, verzichtet substanziell auf eine wirksame emanzipative Politik, die immer ein kritisches Begreifen der in die Strukturen – und das heißt explizit auch in Naturwissenschaft und Technologie – eingeschrieben Machtverhältnisse voraussetzt. Noch absurder wird das Ganze dadurch, dass es sich bei diesen AktivistInnen oft um selbsternannte Töchter und Söhne dekonstruktivistischer Theorieansätze, die sie aber offensichtlich nicht im geringsten begriffen haben, handelt. Obwohl, im Sinn der psychoanalytischen Interpretation ließe sich hier natürlich auch sagen: "Söhne töten (symbolisch) ihre Väter, Töchter scheinbar ebenfalls, und Mütter werden offenbar auch nicht ausgenommen". Aus jenem Blickwinkel wäre dieser Rechtsschwenk der Töchter und Söhne der dekonstruktivistischen Theorieansätze hin zu autoritären eineindeutigen Weltbildern, in denen die Theorien der Naturwissenschaft über die Welt gleichgesetzt werden mit der Welt, dann nur ein konsequentes Ausleben unbewusster Bedürfnisse.

Die Kritik der Naturwissenschaften und der von ihr bestimmten technokratischen Institutionen wurde ab Ende der 1960er-Jahre in einer Vielfalt von Wissensbereichen detailliert ausgeführt. In der Medizin wurde diese Kritik formuliert bezogen z. B. auf die Stigmatisierung und Medikalisierung von Homosexualität, auf die Medikalisierung des Geburtsvorganges und im Kontext der Antipsychiatriebewegung bezogen auf psychiatrische Gewalt und Willkür. In der Physik / Ingenieurtechnik wurde sie z. B. anhand der Kritik der Nutzung von Atomkraft entwickelt – bis Mitte der 1970er-Jahre galt es in Fachkreisen noch als eine gute Praxis, hochradioaktiven Müll in der Tiefsee zu verklappen, und bis in die 1960er-Jahre hinein wurde von Fachleuten empfohlen, Atombomben als Nutztechnologie zur Herstellung von Hafenbecken und Gaskavernen zu nutzen, und dies wurde teilweise auch umgesetzt. In der Architektur galt in den 1960er- und 1970er-Jahren der Brutalismus als Maß der Dinge und die geplante Zubetonierung ganzer Stadtteile durch Betonburgen wurde nur durch Hausbesetzungen und direkten Widerstand der BürgerInnen verhindert. Auch dieser Widerstand basierte auf der Kritik der technokratischen Überformung der Gesellschaft. Diese Beispiele ließen sich fast beliebig fortsetzen, ein erheblicher Teil der linken Widerstandsbewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland wandte sich explizit gegen die technokratische Ignoranz der Natur- und Technikwissenschaften und der Medizin, gegen ihre Institutionen und die mit ihnen verbundenen Machtinteressen. Der Kampf um die Narrative des Mensch-Natur-Verhältnisses, des Begreifens von Welt und die Infragestellung der Medizin-, Natur- und Technikwissenschaften und der mit ihnen verbundenen Institutionen wurde offensiv betrieben und war ein wesentlicher Grund für die Erfolge der Bewegungen, z. B. im Bereich LGBTIQ.

Technokratische Bürokratien produzieren eine von der Realität abgekoppelte Blasenrealität, einen technokratisch bürokratischen Verblendungszusammenhang, der in Gewalt umschlägt, nicht weil die AkteurInnen in diesen Bürokratien ethisch verwerfliche Intentionen haben, sondern weil die bürokratisch-technokratische Rationalität innerhalb solcher Apparate in Irrationalität umschlägt. Die Apparate produzieren ihre eigenen internen Logiken, welche die Realität überschreiben und zu strukturell irrsinnigem Handeln führen, gerade weil dieses Handeln den rationalen Vorgaben und Abläufen des Apparates folgt. Naturwissenschaft, Technokratie und Bürokratie produzieren so in gegenseitiger Verstärkung Sphären strukturellen Irrsinns, der hochrational auftritt und den die in den Apparaten Beschäftigten / Lebenden selbst nicht als solchen erkennen können. Für sie repräsentiert der bürokratisch- technokratische Apparat die Realität, und die wirkliche Realität wird als Störfaktor wahrgenommen, die es zur Not mit staatlichem Zwang zu eliminieren gilt. Verstärkt wird diese Tendenz zum Irrsinn in der Moderne durch den Einsatz von Computern und Modellrechnungen, die anstelle der erlebten Realität zur Grundlage von Entscheidungen und Handeln werden.

Lange Zeit wurden diese Tendenzen des wissenschaftlich-technokratischen Komplexes zum irrationalen Abschluss gegenüber der Wirklichkeit zumindest teilweise dadurch relativiert, dass dieser selbst von vielfältigen Brüchen und Widersprüchen durchzogen war und unterschiedliche Ansätze der Interpretation verfolgt wurden und in Konkurrenz zueinander standen. Insbesondere brachten Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften ihre je eigenen erkenntnistheoretischen Grundlagen in den Diskurs ein. Für die emanzipatorische linke Kritik war gerade dies in den 1970er- und 1980er-Jahren der Ausgangspunkt. Mit der Durchsetzung des Neoliberalismus seit den 1980er-Jahren wurden aber sowohl die Sozial- und Kulturwissenschaften als nicht relevant für die Mehrwertabschöpfung marginalisiert, als auch die Förderung der Natur- und Technikwissenschaften unter den Stichworten der Steigerung der 'Effizienz' des Ressourceneinsatzes und der 'Verwertungsorientierung' auf wenige vielversprechende Forschungsstränge fokussiert. Dazu parallel lief die Durchsetzung von Evaluationsverfahren, die zusätzlichen Druck auf abseits des Mainstreams liegende alternative Forschungsansätze (mit entsprechend geringerer Publikationsresonanz) ausübten. Außerdem wurde durch die noch fortschreitende Globalisierung und weltweite Vernetzung der Forschung und die damit einhergehende globale Gleichschaltung die Vielfalt der Ansätze zusätzlich reduziert. Darüber hinaus bewirkten auch die immer weiter steigenden Kosten empirischer Forschung in Natur- und Technikwissenschaften eine Reduktion der Vielfalt. Der Tunnelblick wurde zur Norm der Wissenschaften und hat sich seitdem in den meisten Bereichen als Standard durchgesetzt.

Parallel lief diesen Prozessen die weitgehende Zerstörung der Wissenschaftsforschung in den Bereichen Wissenschaftstheorie, Technikfolgenabschätzung und Social Studies of Science. Diese Bereiche, die in Deutschland im Vergleich zum angloamerikanischen Raum nur marginal entwickelt waren, in den 1980er-Jahren aber durch die politischen Bewegungen und den von ihnen entfalteten Druck eine Aufwertung erfuhren, wurden bereits in den 1990er-Jahren im Zuge des neoliberalen Umbaus der Hochschulen weitgehend wieder abgebaut bzw. entsprechend dem neoliberalen Anforderungsprofil umgebaut und auf Begleitforschung zur Diskursivierung von Akzeptanzproblemen und ethischen Fragestellungen reduziert. Der Grundfehler dieser Ethifizierung der Wissenschaftstheorie und Technikfolgenabschätzung liegt dabei in der Nicht-Infragestellung der machtförmigen Konstruktion der wissenschaftlichen Fakten. Diese und ihre Konstruktion werden nicht mehr hinterfragt, sondern als Setzung unkritisch übernommen, und es findet nur noch ein von diesen Setzungen ausgehender Ethikdiskurs statt. Jede ernstzunehmende kritische Analyse von Naturwissenschaft und Technologie müsste demgegenüber aber zuerst die Wissensproduktion selbst bzgl. ihrer Interessenverquickungen, Machtverstrickungen und der in sie einfließenden, gesellschaftlich bedingten zeitabhängigen Vorurteile in den Blick nehmen und hier zuallererst Praxen der Kritik und Offenlegung einfordern. Dies findet nur in der Regel gerade nicht (mehr) statt, stattdessen dienen Ethikdiskurse meistens der Zementierung der naturwissenschaftlich-technokratischen Setzungen als nicht hintergehbare Ausgangspositionen. Damit ist aber das Ergebnis der Debatte von vornherein auf einen bestimmten begrenzten Rahmen festgelegt, das Spiel ist Betrug, die Regeln sind so festgelegt, dass durch die Regeln schon zuvor die Durchsetzung der herrschenden Interessen, das heißt, der Interessen der Herrschenden, sichergestellt ist, da diese vorab in die Konstruktion der Fakten eingeschrieben wurden.

Ein Beispiel dafür ist die Mikrobiologisierung und Genetifizierung des Blicks, z. B. im Bereich der Patentierung von Nutzpflanzen. Der Anbau spezifischer Pflanzen, ihre Züchtung und Nutzung umfasst traditionell über Generationen hinweg entwickelte Arbeitsprozesse und ist in komplexes Ökosystemwissen und bestimmte gesellschaftliche Nutzungspraxen eingebettet. Außerdem basiert die Nutzungsmöglichkeit auf der über Generationen in der Nutzpflanze materialisierten Arbeit. Durch die Patentierung einer solchen Nutzpflanze wird diese Arbeit enteignet und finanzkapitalistische AkteurInnen eignen sie sich an. Ein Prozess, der nur durchsetzbar ist durch die völlige Ausblendung dieser Wirklichkeit. Die Mikrobiologisierung und Genetifizierung des Blicks in Wechselwirkung mit passgenau zugeschnittenen juridischen Systemen stellt dies sicher. Das Patentamt fasst die Nutzpflanze nicht als Produkt kultureller Praxen über viele Generationen hinweg, sondern reduziert diese auf einen genetischen Code. Die in die Pflanze eingeflossene Arbeit wird unsichtbar und kann so kostenfrei angeeignet werden. Gleichzeitig drohen durch den damit einhergehenden teilweisen Verlust z. B. des Ökosystemwissens langfristige Folgeschäden. Abhängig davon, ob die Pflanze faktisch als Produkt eines genetischen Codes oder als Materialisierung eines kulturellen Aneignungsprozesses von Natur begriffen wird, ergeben sich unterschiedliche Schlussfolgerungen und Praxen.

Ein paralleles Problem ist im Diskurs um Covid-19 zu beobachten. Der reduktionistische Blick durch die Brille der VirologInnen, MikrobiologInnen und FachtierärztInnen für Mikrobiologie, welche die Fachberatungsgremien der Bundesregierung im Kontext Covid-19 dominieren, führt nicht nur dazu, dass Fragen zur Virusverbreitung, soweit sie komplexe gesellschaftliche Interaktionsweisen betreffen, selbst Faktoren wie intergenerative Wohnverhältnisse und ihre Auswirkung mit katastrophalen Folgen vernachlässigt werden, sondern vor allem dazu, dass eine umfassende Bewertung der Maßnahmefolgen und ihrer autoritären Durchsetzung unter Außerkraftsetzung elementarer Rechtsprinzipien der Demokratie fast vollständig unterbleibt. Dabei ist durch viele dieser Maßnahmen neben den direkten negativen Folgen für die Menschen, ihre Verelendung und die Verkürzung ihrer Lebenserwartung, eine substanzielle dauerhafte Beschädigung der demokratischen Kultur zu erwarten. Das Regieren im Ausnahmezustand, dies zeigt das Beispiel Frankreichs der letzten Jahre, führt fast notwendigerweise zu systematischem Demokratieabbau und der weiteren Entfremdung von Regierungen, Parteien und Teilen der Bevölkerung. Allein dies kann, falls hier keine Gegenbewegung an der Basis Abhilfe schafft, langfristig Schäden generieren, die sehr viel schwerwiegender sein können, als die von Covid-19 ausgehenden Gefahren. Hierfür bedarf es nur politischer Selbstblockaden der Gesellschaft, welche diese zunehmend handlungsunfähig werden lassen. Dabei gilt natürlich auch hier, dass dies keine neuen Entwicklungen sind. Die Probleme des Vertrauensverlustes in die Demokratie haben nicht mit der autoritär-ignoranten Durchsetzung der 'Infektionsschutzpolitik' begonnen, sich allerdings noch einmal erheblich zugespitzt. Notwendig wäre stattdessen eine Diskussion der Maßnahmen unter einem Blickwinkel gewesen, der Gesundheitspolitik nicht nur biologisch-medizinisch, sondern auch als Teil der komplexen gesellschaftlichen Normalisierungs-, Subjekt- und Machtpolitiken betrachtet, und darüber hinaus diese Analysen in eine gesellschaftskritische Analyse ihrer Wirkung einbettet. Dies hätte dann aber eine offene substanzielle Debatte über Sinn und Unsinn von Maßnahmen erfordert, statt autokratisch-bürokratischen Agierens und obrigkeitsstaatlicher Machtanmaßungen. Dabei geht es nicht darum, den FachberaterInnen aus Mikrobiologie und Virologie unlautere Absichten zu unterstellen. Die Gewaltförmigkeit der von ihnen beförderten Politiken beruht nicht auf bösartiger Intention, sondern auf Ignoranz, welche diese aus ihrer Sicht noch dazu als moralisch korrekte Demut begreifen, im Sinne dessen, keine Aussagen zu Themen zu treffen, über die sie kein Fachwissen haben. Die Fachleute mit Tunnelblick schieben den PolitikerInnen die Verantwortung zu, sie stellen nur ihr Fachwissen zur Verfügung, und die PolitikerInnen verweisen auf die Fachleute. So entsteht ein Zirkel struktureller Verantwortungslosigkeit und Blindheit, gerade durch den so sympathisch und professionell wirkenden, zurückgenommenen Habitus. Dabei gab es in den 1970er- und 1980er-Jahren aus der Erfahrung der Vergangenheit die Forderung, dass WissenschaftlerInnen die gesamtgesellschaftlichen Folgen ihres Handelns berücksichtigen und aktiv dazu beitragen sollten, diese zu erkennen. Es ist nicht unwesentlich dieser zurückgenommene Habitus, der in der Geschichte immer wieder die MittäterInnenschaft der Wissenschaften befördert hat.

Die neoliberale Formung von Wissenschaft, Hochschulen und Wissenschaftsinstitutionen trifft nicht nur die WissenschaftlerInnen, sie hat mit dem Bologna-Prozess, der Einführung von Creditpoint-Systemen, Bachelor und Master, der Gleichschaltung von Lehrplänen und der autoritären Verschulung der Hochschullehre auch an Universitäten ein Klima permanenten Drucks geschaffen, das es Studentinnen schwer macht, sich überhaupt noch wissenschaftlich kritisch zu bilden, geschweige denn, eigenständige kritische Aneignungspraxen von Wissen und Wissensgenese zu entwickeln. Dies ist sicher ein Grund dafür, dass es auch vonseiten der StudentInnen, selbst von denen, die sich kritisch links verorten, kaum Widerstand gegen diese Deformierung der Wissenschaften gibt, und dass im Kontext Covid-19 von dieser Seite die repressiv obrigkeitsstaatliche reaktionäre 'Infektionsschutzpolitik' teilweise sogar offen aktiv unterstützt wurde. Die Unfähigkeit zum kritisch-begrifflichen Denken und die Unkenntnis linker Theorieansätze ist inzwischen in Teilen dieser universitären Linken so weit fortgeschritten, dass nicht einmal mehr wahrgenommen wird, wenn eine Politik dem offen entgegen steht, sodass linke Staats- und Autoritätskritik auf einmal als rechtes Gedankengut bezeichnet wird, und rechte Autoritätsfolgsamkeit als linke Tugend. Krieg ist Frieden, wie Orwell das ausdrückte. Nur geschieht auch dies nicht aus propagandistischer Absicht, sondern wiederum aus einer Mischung von Ignoranz, der Unwilligkeit, lange Texte zu lesen, mangelnder Konfrontationsfähigkeit gegenüber Autoritäten und der Angst, dass aufgrund der falschen Äußerungen dunkle Flecken im Lebenslauf stehen, welche die zukünftige Karriere verhindern könnten.

Als noch problematischer hat sich gleichwohl im Kontext Covid-19 die neoliberale Überformung wissenschaftlicher Institutionen, wie dem RKI (Robert Koch Institut) oder der WHO (Weltgesundheitsorganisation), erwiesen. Die WHO, die im 20. Jahrhundert teils ausgesprochen progressive Politiken verfolgt hat und in den 1980er- und 1990er-Jahren auch die Kritik von Naturwissenschaften und Medizin aus Sicht einer postkolonialistischen Analyse im Sinne der Kritik der in diese eingeschriebenen postkolonialen Ideologien unterstützt hat, geriet gerade aufgrund dieser Politikansätze gegen Ende des Jahrhunderts mit abnehmender Bedeutung des Ostblocks, bis hin zum Zusammenbruch von diesem, unter Druck von konservativ-reaktionären Politikfraktionen, insbesondere der republikanischen Partei in den USA. Dies führte seit den 1990er-Jahren vonseiten der USA zur Kürzung der Geldmittel, bei gleichzeitigem Druck auf die WHO, im Rahmen neoliberaler Strukturreformen stärker Mittel von Stiftungen des Digital- und Finanzkapitalismus´ und von Konzernen für Projekte zu akquirieren. Gleichzeitig wurden immer mehr der im Kontext der WHO aktiven FachwissenschaftlerInnen aufgrund der parallelen neoliberalen Umstrukturierung der Wissenschaften immer stärker zu interessengebundenen AkteurInnen der entsprechenden Kapitalfraktionen, die zunehmend über ihre Karriere entschieden, insbesondere wuchs der Einfluss der Pharmaindustrie in den Gremien der WHO massiv. Zusammen bewirkte dies, dass die WHO zunehmend in ihren Aussagen von Interessen dieser Kapitalfraktionen beeinflusst wurde und wird. Am deutlichsten trat dies für die allgemeine Öffentlichkeit im Kontext des Skandals um die Schweinegrippe der H1N1-Infektion zutage. Aufgrund des Einflusses von FachwissenschaftlerInnen mit Pharmaverbindungen und weiterer Einflussnahmen wurde die Gefahr durch die H1N1-Infektion vonseiten der Fachgremien der WHO weit übertrieben und eine vollständig überflüssige Impfkampagne in Gang gesetzt, die der Pharmaindustrie rund 18 Milliarden Dollar einbrachte.

Wesentlich beteiligt an der Aufarbeitung dieses Vorgangs war der SPD-Gesundheitsexperte Wolfgang Wodarg, der die Untersuchungen des Europarates zur Pandemie H1N1 2009/10 und zur Rolle der Impfstoff-Hersteller und der WHO initiierte und als wissenschaftlicher Berater unterstützte. Wodarg ist Mediziner mit Zusatzstudium in Epidemiologie, war langjähriger Leiter eines Gesundheitsamtes, langjähriges Mitglied des Bundestages und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Facharzt für Sozialmedizin und Kritiker der Neoliberalisierung des Gesundheitswesens und war unter anderem fachlich und politisch intensiv auch mit Themen des Infektionsschutzes befasst (BSE, Influenza und andere Viruserkrankungen, Tierseuchen, Antibiotika-Resistenzen), um nur einen Teil seiner Qualifikationen zu nennen. Ausgehend von den Erfahrungen mit der H1N1-Infektion und mit der Fragwürdigkeit der Entscheidungsprozesse gehörte Wolfgang Wodarg dann 2020 auch zu den frühen Kritikern der 'Infektionsschutzmaßnahmen' im Kontext Covid-19. Seine Einschätzung zu Covid-19 erwies sich zwar als falsch, er setzte die Gefahr zu niedrig an, nichts desto trotz ist seine Bewertung der Aussagen von RKI und WHO, angesichts der Erfahrungen, die er als hochqualifizierter Fachmann mit diesen Institutionen machte und sein Misstrauen diesen gegenüber, als rational zu bezeichnen. Im Wissen darum, dass inzwischen praktisch alle Entscheidungsebenen der Politik und 'unabhängiger' Institutionen, wie dem RKI oder der WHO, tief in die Struktur hineinreichend verfilzt sind mit den Interessen spezifischer Kapitalfraktionen, ist nicht dieses Misstrauen ein Zeichen von Verschwörungstheorien, sondern es ist eher als extrem naiv zu bezeichnen, diesen Gremien unkritisch zu vertrauen. Das heißt indessen nicht, dass alles was diese Institutionen sagen falsch ist, nur dass es kritischer Nachprüfung bedarf. Das Menschen, die diese Nachprüfung nicht leisten können, pauschal alles ablehnen, was hier publiziert wird und mit größtem Misstrauen betrachten ist aber diesen Institutionen vorzuwerfen. Den Vertrauensverlust dieser Institutionen haben sich ganz allein diejenigen zuzuschreiben, welche diese Neoliberalisierung vorangetrieben haben. Erhebliche Bereiche formal unabhängiger politischer Entscheidungs- und Kontrollstrukturen sind inzwischen durch diese Form strukturaler Korruption unterwandert, einer legalen Korruption die internationale Verträge, der politischen Öffentlichkeit und Kontrolle entzogene ausgelagerte Entscheidungsinstitutionen und teils auch direkt zurechtgeschnittene Gesetze nutzt, um die demokratischen Prozesse zu unterlaufen und spezifischen MachtakteurInnen Vorteile zu verschaffen. Klassische Beispiele für diese Art legaler Korruption sind z. B. die im Kontext Luxemburg-Leaks aufgedeckten Strukturen und der nachfolgende Umgang mit dem Whistleblower in diesem Zusammenhang, aber auch die meisten Private-Public-Partnership-Verträge. Das Wolfgang Wodarg aufgrund seiner Erfahrung vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklungen im Kontext der 'Infektionsschutzpolitik' frühzeitig davor gewarnt hat, dass die WHO und das Robert Koch-Instituts viel zu oft 'durch Sekundärinteressen aus Wirtschaft und/oder Politik korrumpiert' agieren, war das richtige verantwortliche Handeln und keinesfalls verantwortungslos. Das ihm dabei Fehleinschätzungen unterlaufen sind hinsichtlich der Gefahr durch den Virus ändert daran nichts.

Sicher kann man die mangelnde Bereitschaft zur Korrektur bei Wolfgang Wodarg kritisieren, das gleiche gilt aber auch für einen nicht unerheblichen Teil derjeniger, welche die Gefahren von Covid-19 vollständig überbewertet haben. So liegt die reale Gefahr in etwa beim Mittelwert zwischen den anfangs von der WHO im Prozentbereich angegebenen und den von Wolfgang Wodarg als vergleichbar zur Grippe angegebenen Letalitätsannahmen. Eine sachliche Auseinandersetzung mit den von Wolfgang Wodarg richtig benannten problematischen Interessenverfilzungen der Fachgremien hätte aber unabhängig davon stattfinden müssen. Die Art und Weise, wie Wodarg in den Medien demontiert und systematisch stigmatisiert wurde, verweist auch hier darauf, dass Wissenschaft im Kontext Covid-19 nicht als kritische Auseinandersetzung begriffen wurde, sondern dass JournalistInnen und auch viele WissenschaftlerInnen hier vergleichbar den AnhängerInnen eines Kultes bzw. einer Religion agierten. Entsprechend wurde sich mit fachinternen KritikerInnen nicht auseinandergesetzt, sondern diese wurden exkommuniziert. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Umgang in den USA mit der Laborhypothese bzgl. der Herkunft des Virus': Schon frühzeitig wurde von einigen wenigen kritischen WissenschaftlerInnen darauf hingewiesen, dass sich in Wuhan eines der führenden Labore der Virusforschung mit Schwerpunkt der Erforschung von Coronaviren befindet. Parallel wiesen KritikerInnen des Mainstream-Narratives – der Virusherkunft von einem Wildtiermarkt – auf die mangelnden Belege hin. Ausgehend von diesen Informationen wurde die These der Möglichkeit der Herkunft des Virus aus einem Laborunfall, also eine versehentliche Freisetzung, formuliert. Die Reaktion in den USA darauf war, dass diejenigen, welche diese These äußerten, als VerschwörungstheoretikerInnen und antichinesische RassistInnen diffamiert wurden. Parallel wurden ihre Beiträge auf den großen Internetplattformen systematisch zensiert, selbst die von US-Senatoren. Sachfragen zum Thema, die der konservativ-reaktionäre Senator Tom Cotton in einer Anhörung stellte, wurden systematisch verdreht dargestellt, um auch ihn als Verschwörungstheoretiker diffamieren zu können. WissenschaftlerInnen, die es wagten, die Laborhypothese als Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, wurden denunziert und auch ihre Exkommunikation aus der Wissenschaft gefordert. Erst nachdem die linke technologiekritische Plattform 'Right to Know' über Rechtsakte, durch Einsicht in E-Mails von mit dem Labor in Wuhan verbundenen US-Wissenschaftlern, nachweisen konnte, dass ein zentraler Artikel aus Fachkreisen, der in den Medien als Beweis der Unwissenschaftlichkeit der Laborhypothese vielfach zitiert worden war, ein bewusst aus dem Laborumfeld verdeckt produzierter Artikel war, um jeden Verdacht vom Labor abzulenken, wurde es 2021 zunehmend unmöglich, die Laborhypothese weiter pauschal abzuweisen. Zuerst versuchte aber Google noch durch Ranking-Manipulationen, die Plattform Right to Know der Unsichtbarkeit zu übereignen, musste dies aber nach Protesten rückgängig machen.
Zum besseren Verständnis eine kurze Auflistung der inzwischen bekannten Fakten:

- In Wuhan befindet sich ein Hochrisikolabor, wo an Coronaviren geforscht wird.

- Es wurden dort unter anderem GOF (Gain of Function)-Forschungen durchgeführt bzw. Forschungen, welche diesen gleichen. Der Begriff GOF ist umstritten, das Faktum nicht. Darunter sind Forschungen zu verstehen, bei denen die MikrobiologInnen bewusst Viren züchten, die für Menschen gefährlich sind, um anhand dieser dann Verbreitungsprozesse, Risikoprofile und Gegenmittel erforschen zu können. Ziel ist es, auf eventuelle Ausbrüche besser vorbereitet zu sein und ein besseres Risikomanagement betreiben zu können. Gleichzeitig beinhalten diese Forschungen ein extremes Risikopotenzial bei Freisetzung der gezüchteten Viren und unterliegen strengen Sicherheitsvorkehrungen.

- Da es sich in Wuhan teilweise um Kooperationsforschung mit den USA handelt, wurde das Labor von der Seite aus überprüft und noch 2018 für die ungenügende Umsetzung der Sicherungsmaßnahmen kritisiert.

- Der Ausbruch in Wuhan erfolgte in großer Nähe zum Labor.

- Es gibt Hinweise darauf, dass mehrere LabormitarbeiterInnen kurz vor dem Ausbruch der Epidemie an einer Erkrankung mit coronaähnlichen Symptomen erkrankten.

- Die These der Verbreitung über den Konsum eines Wildtieres konnte bisher nicht belegt werden. Da die Fledermaushöhlen weit entfernt von der Stadt liegen, ist ein direkter Infektionsweg ausgeschlossen. Darum wurde ein Wildtier als Vektor der Verbreitung vermutet. Bisher ist es aber nicht gelungen, bei einem der infrage kommenden Wildtiere den entsprechenden Virus nachzuweisen.

- Die chinesische Regierung verweigert die Einsicht in die Daten, die es möglich machen würden nachzuprüfen, ob es sich um einen Laborunfall handelt.

- Die australische Regierung wurde, als sie frühzeitig in 2020 eine Klärung der Laborhypothese forderte, von China mit einem Handelsboykott bzgl. des Rohstoffimports mit Schäden in Milliardenhöhe belegt.

- Die mit dem Labor in Wuhan verbundenen internationalen WissenschaftlerInnen haben Anfang 2020 einen Artikel publiziert, bei dem sie durch Platzierung befreundeter international renommierter WissenschaftlerInnen als AutorInnen bewusst die Verbindung der Verfasser des Artikels zum Labor vertuscht haben, und der in den Medien vielfach als Beleg für die Unsinnigkeit der Laborhypothese aufgegriffen wurde. Ein Teil dieser befreundeten WissenschaftlerInnen hat sich mittlerweile gegenteilig positioniert und dahingehend geäußert, dass sie inzwischen die Laborhypothese für die wahrscheinlichste Möglichkeit halten.

Nun muss das Verhalten der chinesischen Regierung, die sich wie ein Krimineller verhält, der die eigene Tat vertuschen will, nicht bedeuten, dass hier wirklich etwas zu vertuschen ist. Es kann sich hier auch einfach um die quasi automatische Reaktion einer autoritär-totalitär-technokratischen Nomenklatura auf jede Form der Infragestellung handeln. Unabhängig davon steht aber inzwischen fest, dass die Laborhypothese zumindest eine denkbare Möglichkeit darstellt. Dies ist aber das Eingeständnis der wissenschaftlichen Community dahingehend, dass GOF-Forschung ein solches Risiko beinhaltet. Trotzdem halten die international vernetzten SpitzenforscherInnen auch in Deutschland an diesem Instrument fest. Für ForscherInnen, für die es im neoliberalen Tretrad wichtig ist, in kurzen Zyklen publikationswürdige Forschungsergebnisse zu erzielen, ist das Instrument GOF zur Beschleunigung der Produktion von Ergebnissen ein Instrument, auf das sie nicht verzichten wollen. Die weitgehende Unfähigkeit der großen Medien, auf diese Zumutung hin adäquat zu reagieren, verweist noch einmal auf die überhöhte, fast unantastbare Stellung bestimmter FachwissenschaftlerInnen, die auch in diesem Punkt mehr der traditionellen Stellung des Priesters auf dem Höhepunkt einer Religion gleicht. Diese Naturwissenschaftsgläubigkeit, welche die jeweiligen übergeordneten Fachkreise als einzig legitime wahrheitssetzende Instanz installiert, ist ein nicht unwesentlicher Grund für die aktuelle Entwicklung hin zu einer illiberalen Demokratie, in der die postdemokratischen AkteurInnen der großen Parteien inklusive Teilen der Linken wie fundamentalistische VertreterInnen dieser Religion agieren. Hierin und in der damit einhergehenden Diskursverweigerung gegenüber KritikerInnen z. B. der 'Infektionsschutzpolitik' ist ein mindestens ebenso zentraler Grund für den Hass und die Emotionalisierung der Debatten zu sehen, wie in Fake News, Verschwörungserzählungen usw.. Noch zugespitzter ist festzustellen, dass diese Rahmung des Diskursraumes, durch welche die Argumente der anderen außerhalb des Sagbaren angesiedelt und deshalb verworfen werden, ohne überhaupt auf sie einzugehen, eine wesentliche Ursache auch für die erfolgreiche Verbreitung von Fake News, Verschwörungserzählungen usw. unter diesen vom Diskurs Ausgeschlossenen ist.

Wenn im Kontext der Diskussion um die 'Infektionsschutzpolitik' die Aufforderung zur Argumentation als Angriff wahrgenommen wird, das Wissen um das Nichtwissen – und zwar bezogen auf das 'gesicherte' Fachwissen – weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden ist, Medizin als Disziplinar- und Kontrollmachtstruktur ausgebaut und so getan wird, als wären Medizinerinnen und FachwissenschaftlerInnen nicht auch in ihrem wissenschaftlichen Denken von vielfältigen Interessen bestimmt, von Karriereoptionen, Forschungsförderungsabhängigkeiten, Vor-urteilen ihrer Zeit u. a., dann wird auf Naturwissenschaft nicht kritisch rational Bezug genommen, sondern als durchzusetzender religiöser Rahmen der Wirklichkeitsinterpretation, bei der den Auslegungspraxen der FachwissenschaftspriesterInnen zu folgen ist. Zu begreifen ist demgegenüber, dass 'gesichertes' Fachwissen als solches nicht existiert, da es nur Theorien gibt, allerdings besser und schlechter abgesicherte, und auch FachwissenschaftlerInnen mit ihrem Denken Produkte ihrer Zeit sind. Als Wahrheitskriterium zu nutzen, wer etwas gesagt hat, ist eine alte Krankheit, die durch die Infektionssituation verstärkt wurde, eine Krankheit, die allerdings auch vorher bereits weite Teile der Bevölkerung ergriffen hatte. Relevant sollten nur die Argumente und ihre kritische Würdigung sein.

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06-5 - Rekurs - Ludwik Fleck

- Denkkollektive und Denkstile -


Um genauer fassen zu können, was im Diskurs um Covid-19 passiert, welche längerfristigen Fehlentwicklungen und welche grundsätzlichen Strukturen des wissenschaftlichen Denkens hier zum Tragen kommen, sollen im Folgenden noch einige Überlegungen des polnisch-jüdischen Wissenschaftstheoretikers, Mikrobiologen und Mediziners Ludwik Fleck dargestellt werden, insbesondere seine Begriffssetzung 'Denkstil' und 'Denkkollektiv'. Fleck gilt heute in der Wissenschaftstheorie als einer der bedeutendsten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Er hat als einer der Ersten eine systematische Wissenschaftsforschung betrieben, d. h. die detaillierte Analyse des empirischen Vorgangs der Genese von Erkenntnis, am Beispiel der konkreten medizinisch-mikrobiologischen Forschungspraxis. In den 1930er-Jahren untersuchte er die Forschungspraxis im Bereich der mikrobiologischen Forschung zur Syphilis. Er führt anhand dieser empirischen Beobachtungen und ihrer Analyse unter anderem aus, wie Begriffs- und Theorieentwicklungen im Kontext der Konstruktion von Beobachtungsgegenständen (z. B. unter dem Mikroskop) stattfinden, ebenso wie ihre Materialisierung durch empirische Praxen und den Prozess, wie sich Festlegungen in einem Kollektiv von WissenschaftlerInnen durchsetzen und alternative Interpretationen verworfen werden.

Für Fleck basiert die Naturwissenschaft auf Denkkollektiven, die einen gemeinsamen Denkstil teilen. Nur innerhalb dieses Denkkollektivs finden Theorie und Praxis statt, nur das innerhalb dieses Denkstils Formulierbare ist erkennbar. Ausgeführt hat er diese Überlegungen im 1935 erschienen Buch 'Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache'..


Wahrheit ist auch in der Naturwissenschaft nicht an überzeitliche allgemeingültige Kriterien gebunden, sondern an das zeitlich verortbare und sich aufgrund bestimmter Ein- und Ausschlusspraxen konstituierende Denkkollektiv.


Für Denkkollektive, die über längere Zeiträume bestehen, wie die Denkkollektive der Naturwissenschaften, bilden sich dabei Zwänge heraus, die weitgehend bestimmen, was und wie überhaupt gedacht werden darf.


Dies betrifft nicht nur die Interpretation des Beobachteten, sondern die Festlegung dessen, was überhaupt ein legitimer Beobachtungsgegenstand ist, was überhaupt als Problem zu betrachten ist ,und wie diese Betrachtungsweise zu geschehen hat – mit der Herausbildung einer entsprechenden Intoleranz gegenüber anderen Anschauungsweisen und Denkstilen.


Allein diese Struktur des Denkkollektivs führt, unabhängig vom Realitätsgehalt des Denkstils, unabhängig von seiner Angemessenheit, durch den Rückkopplungskreislauf der am Denkkollektiv Teilhabenden, durch den diese immer wieder ihren Denkstil bestätigen und von außen kommende Kritik abweisen, zur Verstärkung des Abschlusses gegen Fremdeinwirkungen.


Alternative Denkstile, die von ihnen aufgeworfenen Fragen und Probleme, werden als nicht ernsthaft zu berücksichtigende Einwürfe gar nicht mehr als legitime Fragen zugelassen.


Dabei kann diese Ablehnung alternativer Denkstile bis hin zum offenen Hass und der totalen Ausgrenzung gehen, wie Ludwik Fleck in einem 1936 veröffentlichten Text 'Das Problem einer Theorie des Erkennens' ausführt.


Und die sich dem Denkkollektiv zugehörig fühlenden LaiInnen neigen aufgrund der sozialen Struktur der Denkkollektive dazu, 'ihre' Fachleute zu überschätzen und diesen mit zu wenig Kritik gegenüber zu treten.


All dies dürfte allen, welche die Diskurse um Covid-19 mit sehenden Augen verfolgt haben, nur allzu bekannt vorkommen. Im öffentlichen Diskurs um die 'Infektionsschutzpolitik' zeigen sich genau diese Mechanismen des Ausschlusses der Andersdenkenden als SpinnerInnen, VerschwörungstheoretikerInnen usw. bis hin zum offen geäußerten Hass und zu Zensurversuchen. Unter dem politischen Druck des öffentlichen Diskurses agiert der wissenschaftliche Mainstream irrational, sich selbst abschließend gegen jede Form auch nur minimaler Abweichung. Dies bedeutet aber nicht automatisch, dass die Mainstream-Wissenschaften deshalb sachlich unrecht haben müssen. Es zeigt erst einmal nur eine extreme Ignoranz den eigenen Erkenntnisgrenzen gegenüber, wenn sich hier WissenschaftlerInnen als nicht hinterfragbar gebärden, und das noch dazu in einem Diskurs, der weit über ihr eigentliches Kompetenzgebiet hinausgeht. So hat ein Mediziner mit Schwerpunkt Mikrobiologie in der Regel nicht wirklich fachliches Wissen zur Sozialepidemiologie, also zu den für Virusverbreitung mitentscheidenden sozialen Verhältnissen und der Wechselwirkungen von Maßnahmen mit diesen und ihren Auswirkungen auf die Subjekte insgesamt. Ab wann wird z. B. der Nutzen eines Lockdowns durch nicht intendierte Maßnahmefolgen aufgewogen oder sogar negativ, beispielsweise durch die langfristige Zunahme von Erkrankungen durch Substanzmissbrauch (Alkoholismus, Drogen), die Zunahme psychischer Erkrankungen und Verelendungsprozesse aufgrund der Zerstörung von Lebensweisen etc.? Für den medizinisch-mikrobiologisch ausgerichteten Blick sind dies Fragen, die nicht gestellt werden. Für die wissenschaftlich wesentlich breiter als das deutsche Robert Koch Institut und die BeraterInnen der Bundesregierung aufgestellten schwedischen Entscheidungsgremien waren aber genau diese Fragen und ihre Bewertung ausschlaggebend dafür, einen anderen politischen Weg einzuschlagen. Anders Tegnell (Schwedens Staatsepidemiologe) gab explizit die zu erwartenden, langfristigen negativen Folgen für prekäre Gesellschaftsschichten und Kinder und Jugendliche und ihre Abwägung gegenüber einem begrenzten Nutzen schärferer 'Infektionsschutzmaßnahmen' als wichtigstes Kriterium für die Ablehnung solcher Maßnahmen an. Schweden hat im Vergleich zu Deutschland eine um ca. 30 % höhere Zahl an Toten durch die direkte Infektion zu beklagen, sieht man die stark steigende Zahl psychischer Erkrankungen in Deutschland, spricht trotzdem vieles dafür, dass die schwedische Politik sich auf lange Sicht hin als rationaler erweisen wird. Da die Toten aufgrund der Maßnahmefolgen, d. h. Lebenszeitverkürzungen, sich aber über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten verteilen werden – eine depressive Erkrankung oder Substanzmissbrauch u. a. führen in der Regel nicht sofort zum Tod – wird eine Klärung dieses Sachverhaltes aufgrund der Vielfalt anderer Einwirkungen, welche diese Art von Erkrankungen multikausal beeinflussen, vermutlich jedoch nie einwandfrei möglich sein.

Das Problem ist dabei nicht, dass bestimmte WissenschaftlerInnen in einem Denkstil denken und einem Denkkollektiv angehören, das Problem ist, dass zunehmend eine Art von Denkstilen, die auf statistischen Computermodellen basierenden Modellsimulationen mit ihrer extrem reduktionistischen, rein quantitativen Weltsicht auf Subjekt, Gesellschaft und Natur, immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Handelns dominieren und eine gleichgewichtige Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Denkstilen und Wissenschaftsansätzen nur noch marginal und in der Regel höchstens noch im Feuilleton überregionaler konservativer Zeitungen stattfindet. Es ist die Einschließung des gesellschaftlichen Diskurses in einem Denkstil, in diesem Fall dem mikrobiologisch-statistischen Denken, die wesentlich zur diskursiven Katastrophe, der weitgehenden Sprachlosigkeit und Unfähigkeit zur Verständigung zwischen großen Bevölkerungsgruppen im Kontext des öffentlichen Diskurses über den 'Infektionsschutz' geführt hat. Zugespitzt sichtbar wird dies in der Durchsetzung von Zensurmaßnahmen bis hin zur Umwandlung von zutiefst in ihrer Blasenrealität lebenden, von politischen Seilschaften dominierten Strukturen wie der Landesmedienanstalten in Zensurkammern, mit der langfristig hochgradig problematischen Folge einer grundsätzlichen Außerkraftsetzung von Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung – ohne dass dies nennenswerte Kritik auf Seiten der sich selbst als liberal verstehenden großen Zeitungen und Medien hervorgerufen hätte. Im Gegenteil, partiell wurde sogar zur 'Mithilfe' bei der Diskursausschließung Andersdenkender aufgerufen.

Die Wahrheitskommissionen der 'Faktenchecker' mit ihren Zensurmaßnahmen repräsentieren als zugespitzte Variante dieser totalitären Selbstbefangenheit der AkteurInnen in der Blasenrealität eines Denkstils in diesem Zusammenhang nicht nur eine absurde Ignoranz unseres Kenntnisstands der Erkenntnisgenese, aufgrund dessen wir wissen, dass es die objektive überzeitliche Wahrheit nicht gibt. Sie sind nicht nur zerstörerisch auf die Demokratie bezogen, sondern auf die Rationalität selbst, die nur bei ihrer immer wiederkehrenden Infragestellung als Rationalität Bestand haben kann. Sie sind ein Verbrechen wider die Wissenschaft, da sie kritisches Denken zu unterbinden versuchen. Die Weiterentwicklung der Rationalität und der Erkenntnispraxen setzt voraus, unterschiedliche Denkstile zuzulassen, um aus den Widersprüchen Neues zu entwickeln, um durch die unterschiedlichen Blickwinkel überhaupt die in sich widersprüchlichen, komplexen Interaktionsverhältnisse von Mensch, Natur und Gesellschaft im Ansatz fassen zu können. Es gibt nicht die eine Wahrheit, die verteidigt werden könnte. Wahrheitssetzungen unterliegen selbst einem Denkstil und sind nicht unabhängig von diesem zu sehen. Sie entstehen im Blick auf die Welt unter bestimmten Vorannahmen, ohne die ein Urteilen nicht möglich ist und die selbst auf Setzungen basieren, die nicht hinterfragt werden. Im mikrobiologischen Blick gibt es z. B. gar kein Begreifen des eigenen Begreifens, da Begriffe kein mikrobiologisches Korrelat haben, und der Sprache, als gesellschaftlich konstituiertem sozialem Phänomen, in diesem Denkstil keine wirkliche – im Sinne von wirksame – Realität zugeordnet wird.

Bei Ludwik Fleck heißt es dazu im Text 'Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen' (1935):


Dies heißt wie bereits erwähnt nicht, dass es nicht bestimmte Denkstile geben kann, denen zur Lösung eines Problems größere Bedeutung zukommen kann als anderen, z. B. der Mikrobiologie / Medizin für die Impfstoffentwicklung. Nur weil bestimmte Diskurse ausgegrenzt werden, müssen sie nicht sinnvoll sein, aber bereits die Antwort auf die Frage, was ist das Problem, ist nicht unabhängig vom Denkstil und Denkkollektiv. Auf den Infektionsschutz bezogen ist beispielweise zu fragen: Ist allein der Virus als mikrobiologisch fassbares Artefakt das Problem oder umfasst das Problem vielleicht auch

- die Wohnverhältnisse spezifischer Bevölkerungsgruppen und ihre Relevanz für die Virusausbreitung,

- die Auswirkungen der Gegenmaßnahmen,

- die langfristigen politischen Auswirkungen der Teilaußerkraftsetzung der Demokratie,

- usw.

Leider betrifft die Intoleranz und die Unfähigkeit, andere Denkstile zulassen zu können und mit ihnen die Auseinandersetzung zu suchen, nicht nur den dominanten Diskurs über Covid-19, sondern gilt ebenso für große Teile der Kritik, die ebenso unbewusst ob der eigenen Beschränkungen und ohne kritische Selbstreflexion agiert. Viele KritikerInnen sind in keiner Weise selbstkritisch und kritische WissenschaftlerInnen ebenso wenig, sie sind genauso dogmatisch wie die 'fachlichen BeraterInnen' der Bundesregierung, nur sind sie häufig älteren wissenschaftlichen Denkstilen verhaftet und befinden sich deshalb im Gegensatz zu diesen. So reden beide Seiten aneinander vorbei, blind und unfähig, die Wirklichkeit in ihrer widersprüchlichen Komplexität zu erfassen. Teils beziehen sie sich dabei sogar auf dieselbe quantitativ-reduktionistische Weltsicht. Damit verweist der extrem reduktionistische, zu kurz greifende halbblinde Diskurs über Covid-19, wie er in weiten Teilen der Politik und Öffentlichkeit geführt wurde, auf eine Fehlentwicklung im Wissenschaftsbereich an der Basis, die dieser Engführung zugrunde liegt, und sehr viel weiter zurückreicht als der Diskurs um Covid-19.

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts galt, dass die unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen innerhalb der Wissenschaft selbst, die differenten Blickwinkel der substanziell unterschiedlichen Denkstile in Geistes, Sozial- und Naturwissenschaften und die Auseinandersetzung zwischen diesen, wesentliche Antriebskraft für die immer wiederkehrende Arbeit der Infragestellung der rationalen Basis der differenten Denkstile war. Die kritisch-theoretischen Ansätze der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre, z. B. die kritischen Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theorie, ethnomethodologische Ansätze, Teile der poststrukturalistischen Theorieansätze usw. machten dieses Wissen um die eigene Befangenheit sogar zum Teil ihrer eigenen Theorieentwicklung, um es im Prozess der Erkenntnisgenese mit einbringen zu können. Sie formulierten, unter anderem aufbauend auf TheoretikerInnen wie Ludwik Fleck (meistens rezipiert über den Umweg über den stark von Fleck beeinflussten Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn), eine theoretisch versierte Kritik der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgenese, die insbesondere auch den öffentlichen Diskurs beeinflusste, in den USA unter dem Stichwort des 'Culture War'. Sie trug wesentlich zur Modernisierung der Gesellschaft bei, beispielsweise bzgl. der Gleichberechtigung von Frauen und der Entmedikalisierung, Entkriminalisierung und Entstigmatisierung der von der heterosexuellen Normsetzung abweichender sexueller Praxen etc. Bereits seit den 1990er-Jahren findet aber eine Entwicklung der Wissenschaften statt, die nicht nur diese progressiven Wissenschaftsansätze weitgehend aus den Diskursen und der Wissenschaftspraxis verdrängt hat, sondern die Wissenschaft als Erkenntnisinstrument in ihrer Substanz bedroht. Dies hängt wesentlich mit der im Abschnitt 5 dieses Textes dargestellten Durchsetzung des Digital- und Finanzkapitalismus´ zusammen. Und wiederum sind beide Aspekte des Digital- und Finanzkapitalismus´ – die Finanzialisierung sowie die Digitalisierung und ihre Interaktion – für diesen Prozess entscheidend.

Im Folgenden eine kurze Darstellung des Prozesses der Finanzialisierung des Wissens: Bereits seit den 1980er-Jahren wurde und wird die Hochschul- und Forschungslandschaft fundamental umstrukturiert. Die Vergabe von Mitteln, Stellen und Positionierungen in der Hierarchie wurden immer stärker mit der Fähigkeit zur Einwerbung von Drittmitteln verknüpft, Drittmittel sind Mittel aus der Industrie bzw. an industrienahe AkteurInnen ausgelagerte öffentliche Mittel, die von 'unabhängigen', weitgehend durch Interessen international agierender Großkonzerne und des Finanzkapitals dominierte, Gremien vergeben werden – z. B. staatliche Stiftungen, EU-Fördertöpfe usw.. Ab den 1990er-Jahren wurde die Vergabe von Mitteln und Stellen auch mit der direkten Inwertsetzung von Forschung verknüpft, z. B. durch universitäre Ausgründung von Unternehmen der Bioökonomie oder Aninstitute von ProfessorInnen (Institute in privater Trägerschaft an Universitäten) und der damit einhergehenden Übereignung des Forschungsertrages öffentlich finanzierter Forschung (z. B. Patente) an finanzkapitalistische AkteurInnen. Dazu wurden sowohl das Hochschulrecht als auch das Patentrecht u. a. radikal im Sinne der finanzkapitalistischen AkteurInnen umgeschrieben. Wurde ein käuflicher Wissenschaftler 1970 noch ethisch negativ beurteilt, ist heute der Nachweis der Käuflichkeit ein zentrales Karriereargument für WissenschaftlerInnen, sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich, und geradezu Voraussetzung zum Erlangen einer Professur. Nur noch kapitalistisch verwertbares Wissen zählt in der Regel als Wissen. Sozial- und Geisteswissenschaften wurden bis auf wenige Ausnahmen auf den Status von Hilfswissenschaften zur Unterstützung des technokratischen Umbaus der Gesellschaft im Sinne des Digital- und Finanzkapitalismus´ reduziert, im Sinne von Frühwarnsystemen und Moderationstools zur Ausschaltung gesellschaftlichen Widerstandes gegen diese 'Modernisierung'.

Natürlich ist der Einwurf richtig, dass auch vor den Umbrüchen der letzten Jahrzehnte Forschung und Wissenschaft an Herrschaftsinteressen gebunden waren. Diese Ausrichtung von Wissenschaft und Forschung an Herrschaftsinteressen erfolgte jedoch über hierarchische Beziehungen und relativ festgefügte soziale Zusammenhänge innerhalb der herrschenden Nomenklatura von der die Wissenschaft ein Teil war. In sich war die Wissenschaft ein weitgehend selbstgesteuertes System und umfasste aufgrund der langfristigen historischen Entwicklungen unterschiedliche Denkstile und Denkkollektive in unterschiedlichen Fachgebieten. Dies verhinderte auf der einen Seite Veränderungen ("Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren" – Spruch der StudentInnenbewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren), stellte aber auch die differente Vielfalt der Denkstile und Denkkollektive und ihre Absicherung sicher. In den 1960er- und 1970er-Jahren gerieten diese hierarchischen Strukturen zunehmend unter Legitimationsdruck durch die Kritik kritischer WissenschaftlerInnen und vonseiten der StudentInnen. Die Forderungen nach einer Modernisierung der Strukturen wurden dann in den 1980er-Jahren und folgend durch finanzkapitalistische AkteurInnen genutzt, um ihre Form des Umbaus der Hochschulen und der Wissenschaft durchzusetzen. Die progressiven Forderungen der StudentInnenbewegung, die eine stärkere Demokratisierung und Offenheit der Strukturen forderten, wurden dabei in ihr Gegenteil verkehrt. Die Destabilisierung der Hochschulhierarchien durch die Kritik kritischer WissenschaftlerInnen und vonseiten der StudentInnen wurde von den finanzkapitalistischen AkteurInnen genutzt, um ihre Form der 'Modernisierung' und einen radikalen Umbau des Wissenschaftsbetriebes innerhalb weniger Jahrzehnte durchzusetzen.

Parallel zu diesem Prozess verlief seit den 1990er-Jahren mit zunehmender Intensität ein Prozess der grundsätzlichen Umgestaltung der Forschungspraxis. Aufgrund der ständig wachsenden Rechenkapazitäten und Rechengeschwindigkeit, der zur Verfügung stehenden Computeranlagen, konnten immer komplexere und rechenzeitaufwendigere Näherungsmodellierungsverfahren genutzt werden. An die Stelle des Versuchs, durch Beobachtung und Theorieentwicklung Ursache und Wirkungszusammenhänge zu erfassen und die Welt in ihren Funktionszusammenhängen zu begreifen, traten eine Reihe mathematisch-statistischer Näherungsverfahren, die, gefüttert mit hinreichend vielen Daten, in einem bestimmten statistischen Bereich, mit einer definierten berechenbaren Wahrscheinlichkeit, statistische Modellierungen der durch Daten erfassten Vorgänge und Voraussagen über zu erwartende Ergebnisse lieferten. Diese bildeten somit eine hinreichende Grundlage, um aufbauend auf den Modellierungen wirtschaftliche Nutzungen der erfassten Vorgänge zu entwickeln. Natürlich basieren auch die Modellierungen auf irgendwelchen Ausgangsannahmen, eine Konsistenz dieser Ausgangsannahmen und ihre Einbindung in ein übergeordnetes Begreifen der Welt ist aber für ihre Funktionsfähigkeit im Verwertungskontext nachrangig und wird zunehmend vernachlässigt. Letztendlich handelt es sich hier um einen Wiederaufgriff der technokratischen Allmachtshybris der 1950er- und 1960er-Jahre, der damit gerechtfertigt wird, dass früher – im Gegensatz zu heute – keine ausreichende Menge an Daten erfasst wurde und die technokratische Steuerung damals nur deshalb gescheitert wäre. Jeder Fehler der Modellierungen wird in diesem Denken darauf zurückgeführt, dass nun einmal immer noch nicht genug Daten erfasst wurden, und deshalb der Datenzugriff noch weiter ausgeweitet werden müsse. Dass dieser Ansatz grundsätzlich fehlgeleitet sein könnte, weil in ihm z. B. qualitative Zusammenhänge unbegriffen bleiben, tritt den ForscherInnen im Alltag gar nicht mehr vor Augen. Die daraus resultierende, reduktionistische, immer zu kurz greifende Rationalität in Forschung und Wissenschaft breitet sich dabei inzwischen auch jenseits der statistischen Modellierungen immer weiter aus und führt so zu zunehmend irrationaler Ideologieproduktion anstelle von Wissen und Begreifen.

Ein extremes Exempel für diese Form reduktionistischer wissenschaftlicher Forschungsansätze liefert z. B. die neurologische empirische Forschung zum freien Willen. Dazu ist zu bedenken, dass die Grundlage jeder Empirie die Voraussetzung ist, Entscheidungen treffen zu können. Nur wenn es den Forschenden möglich ist, zwischen einem empirischen Ergebnis und einem Nichtergebnis zu unterscheiden, kann Empirie überhaupt sinnvolle Ergebnisse liefern. Dies setzt aber einen freien Willen voraus, da sonst nicht entscheidbar wäre, ob ein bestimmtes empirisches Ergebnis erzielt wurde, oder ob dies den Forschenden aufgrund ihrer Programmierung, also der Festlegungen ihres Denkens, nur so erscheint. Ohne freien Willen wäre ihre Entscheidung ja neurologisch determiniert. Und das heißt: ohne freien Willen keine Empirie und auch keine Widerlegung der Annahme des freien Willens durch Empirie. Die empirische Feststellung: "Es gibt keinen freien Willen" widerspricht der vorab in die Empirie eingeflossenen Annahme, es gebe einen freien Willen, der darüber hinaus Voraussetzung für jede sinnvolle Aussagemöglichkeit ist. Der freie Wille ist auf diese Weise nicht widerlegbar, bewiesen wäre nur, dass irgendwo in dieser Schlussfolgerungskette etwas nicht stimmt, da sie zum Selbstwiderspruch führt. Nun würde vielleicht einer der Vertreter dieser Forschungen zum freien Willen einwenden, dass es ja sein könne, dass die Programmierung uns gerade auf das Erkennen der Welt hin ausrichtet. Aber auch dies würde er, im Fall dessen, dass er keinen freien Willen hat, einzig und allein aufgrund seiner neurologischen Programmierung behaupten, und nicht, weil diesem Satz irgendein Sinn oder realer Gehalt zukäme. Der Einwand wäre also schlichtweg vernachlässigbar. Wenn es sich bei der neurologischen Forschung um ernstzunehmende Forschung und nicht nur um reduktionistische Ideologieproduktion handeln würde, wäre zumindest zu erwarten, dass dieses Problem thematisiert würde, selbiges findet aber nicht statt.

In vielen Bereichen folgt aus dieser Art verkürzter Modelle und zu kurz greifender Rationalität direkte Gewalt, die Ausgrenzung und Negation all dessen, was aus den Modellen ausgeschlossen wird, und damit Ignoranz und im Extrem die Absprache des Existenzrechts. Das Simulacrum (Jean Baudrillard) überdeckt und verschlingt die Realität, die nicht im Modell erfasste Umwelt. Die nicht modellgerechten Verhaltensweisen werden nur noch als Störfaktoren wahrgenommen, die es zu minimieren gilt.

Die digitale Gewalt beschränkt sich dabei nicht auf die wissenschaftlichen Modelle, sie überwuchert parallel auch im zunehmenden Maße andere Bereiche der Universitäten. So werden z. B. Studierende zunehmend als Humanressource-Objekte betrachtet, die man bewirtschaften muss. Dazu hier nur ein Zitat aus den Erläuterungen zu einem der führenden Campusmanagementsysteme der 2000er- bzw. 2010er-Jahre:


Von Studierenden, die in dieser unmenschlichen Form behandelt werden, ist kritisches Denken nur noch im Ausnahmefall zu erwarten. Auch hier gilt, dass es strukturelle Gewalt der Verwaltungsapparate bereits früher gab, nur wird der Durchgriff auf die Einzelnen immer umfassender und lückenloser und nimmt immer stärker eine entmenschlicht-technokratische Form an.

Vom Ideal einer aufklärerischen Wissenschaft, die sich dem kritischen Begreifen der Welt in ihrer ganzen Komplexität verpflichtet fühlt, entfernen sich Hochschulen und WissenschaftlerInnen auf diese Weise immer weiter. Für die wissenschaftlich-technokratischen AkteurInnen des Digital- und Finanzkapitalismus´ mit ihren statistischen Modellierungen ist der Versuch, die Welt kritisch zu begreifen, eine sinnlose, da nicht auf Gewinn ausgerichtete Vergeudung von Ressourcen, und reduziert sich im 'Bestfall' auf die Wochenendlektüre des einen oder anderen Psycho- oder Philosophie-Gurus im Zeitraum zwischen dem sonntäglichen Besuch bei der Oma und der abendlichen Tatortfolge. Ihnen geht es nur noch um die Bewirtschaftung der Welt und die Mehrwertmaximierung, gedacht in Amortisationszyklen des Anlagekapitals, Wissen wird hier reduziert auf eine Kapitalart unter anderen. Das aufklärerische, kritische Begreifen der Welt, unter Einbezug der kritischen Reflexion dieses Prozesses des Begreifens, wurde ersetzt durch ein blindes Bewirtschaften der Welt. Oder – und dies ist die noch viel gefährlichere Alternative – sie sind wirklich überzeugt, dass ihre Computermodelle die Welt und die Subjekte real abbilden, und handeln mit entsprechender autoritärer Ignoranz. Meistens bildet sich aber eine Mischung dieser Versionen heraus.

Letztendlich sind die blinden Stellen des Corona-Diskurses, die engstirnige ignorante Politik, nicht unwesentlich auf die Blindheit zurückzuführen, mit der sich diese Gesellschaft durch die Aufgabe des Projektes einer auf Begreifen der Welt ausgerichteten aufklärerischen Wissenschaft selbst geschlagen hat. Eine Politik, wie wir sie bei der 'Infektionsschutzpolitik' beobachten können, von Halbblinden geleitet, die alles, was sich nicht rechentechnisch im Computer simulieren lässt und über den mikrobiologisch reduktionistischen Tellerrand hinausragt, als irreale Spinnerei ansehen, ist dann die zwangsläufige Folge. Die Totalisierung dieses Denkstils bedroht damit nicht nur die Wissenschaft, sondern die Existenz dieser Gesellschaft selbst.

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07 - Die Kultur der Lüge

- eine Kritik der Kommodifizierung des Politischen in als 'links' markierten Strukturen & eine Kritik der Enteignung emanzipatorischer Begrifflichkeiten und Symbole -




Große Teile der im öffentlichen Diskurs als 'links' markierten AkteurInnen sind aus einer systemkritischen Sicht eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Dies gilt zwar schon lange, hat aber neue Formen angenommen: Im postdemokratischen Zeitalter wird Politik selbst zunehmend zur Ware und gerade sich selbst als 'links' ausweisende AkteurInnenstrukturen sind dabei treibende Kräfte. Für die großen 'linken' Kampagnenplattformen, aber auch für viele NGO-Strukturen gilt inzwischen, dass sie Themen nach dem Kriterium ihrer Vermarktbarkeit auf den in der Regel virtuellen Marktplätzen im Internet auswählen. Dabei agieren sie außerdem immer häufiger, vergleichbar Monopolkonzernen, als Mono-NGOs, die versuchen, einen Teilmarkt der Moralökonomie zu dominieren, und zwar unter Vernachlässigung komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge. Relevant ist nicht mehr, was aufgrund einer gesellschaftspolitischen Analyse als wichtig erkannt wurde, allein schon weil diese NGOs, die sich über den Verkauf dieser Politikkommoditäten und die damit einhergehende Einwerbung von Spenden finanzieren, um es in ihrer Ausdrucksweise zu formulieren: 'eine solche Analyse nicht als Teil ihres Kompetenzbereiches ansehen und sie es für sinnvoller halten, die Kampagnen zu fokussieren'. Sie begreifen sich selbst als SpezialistInnen im Safe-The-Planet-Marketing, die das 'politisch Gute' nach denselben Kriterien vermarkten wie ein Nike-Produkt. Fundierte Systemkritik lässt sich aber nicht marktkonform aufbereiten und wie ein Turnschuh verkaufen. Verkauft wird hier auch nicht politische Erkenntnis, die immer eigenständiges Denken voraussetzt, sondern das gute Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Eine Imagemarketing, welches eben von den genannten Turnschuhkampagnen u. a. übernommen wurde. Die Moralisierung des Politischen, aufs engste mit einer fundamentalen Entpolitisierung der Politik verknüpft, ist der vorgeschaltete Prozess, der überhaupt erst die Subsummierung des Politischen unter die Markenwaren ermöglicht. Der Prozess der Entfremdung der Menschen von politischer Teilhabe, die Entdemokratisierung dadurch, dass sie nunmehr auf WarenkonsumentInnen der politischen Moralökonomie reduziert werden, wird von den AkteurInnen nicht einmal als solcher begriffen, setzen sie doch Teilhabe mit dem Konsum jener Politikkommoditäten gleich. Ideen der Basisdemokratie, der Teilhabe aller an der Bestimmung der Gesellschaftsentwicklung oder gar der Übernahme der Produktionsmittel, gelten ihnen als nicht umsetzbar, Traumtänzerei, potenziell totalitär. Die Infragestellung des bestehenden Systems, der fundamentalen Dysfunktionalitäten der parlamentarischen Demokratie und des Kapitalismus´ ist russische Propaganda und steht in verdächtiger Nähe zur 'dunklen' Zeit Deutschlands, welche diese parlamentarische Demokratie doch gerade überwunden hat. Die durch die aktuelle Phase des Kapitalismus´ produzierte Subjektivität wird außerdem zur überzeitlichen Natur des Menschen verklärt. Dies alles einigt sie mit den postliberalen Stiftungen, wie der Open Society Foundation, der Omydiar-Stiftung etc. und staatlichen Förderinstitutionen, die neben den von ihnen abgeschöpften MoralkonsumentInnen ihre wichtigste Geldquelle sind.

Die Warenstruktur des Politischen auf dem Markt der Moralökonomie bleibt der Politik außerdem nicht oberflächlich, sondern prägt diese bis in ihre Tiefenstruktur. Als Ware muss die politische Moralkommodität die Emotion ansprechen, eine einfache Botschaft vermitteln, nicht zu kompliziert, und darf die KonsumentInnen nicht verunsichern oder zu eigenständigen Denken herausfordern, sie sollen doch schließlich konsumieren und nicht eigenständig, vielleicht gar unabhängig oder kritisch- politisch agieren. Zentral für die MarktakteurInnen der Politikwarenzirkulation der Moralökonomie ist die Pflege des Markenimage, an die Stelle von Inhalt und politischer Analyse tritt die Platzierung der 'richtigen' Begriffe und Symbole, die entsprechend stringent kodifiziert werden. Für das Politmarketing steht die Oberfläche im Zentrum der Aufmerksamkeit, die Verwendung der 'richtigen' Sprache, der kodifizierten Begrifflichkeiten und Symbole. Die Ansprache darüber hinaus erfolgt über Emotionalisierung, Bilder, einfache Sprache und über unbedingt kurze Texte; die KonsumentInnen sollen doch nicht zu lange über den Kauf der Waren nachdenken. In der Sprache der KampagnerInnen heißt dies: 'die Menschen nicht zu überfordern'.

In vielem erinnern diese neuen AkteurInnen der Moralökonomie an die alten, an die katholische Kirche im Mittelalter mit ihrem Ablasshandel. Die Rituale werden wichtiger als das konkret Bewirkte. Inhalte werden nahezu beliebig, aber nicht vollkommen, müssen doch auch diese neuen UnternehmerInnen der Moralökonomie, vergleichbar der katholischen Kirche früher, darauf achten, dass zumindest die Heilsbehauptung gewahrt bleibt. Insofern ist in der Regel nicht das Problem, dass direkt reaktionäre Forderungen vermarktet werden, sondern dass die zur Lösung von Problemen notwendigen komplexen und radikalen Veränderungsprozesse bei ihrem Zuschnitt auf Warendinge so weit verkürzt werden, bis sie instrumentalisierbar für den Umbau der Gesellschaft sind – zur Ausweitung von Herrschaft und zur Ausweitung des Zugriffs des Kapitals auf bisher nicht oder nur oberflächlich durchdrungene Gesellschaftsbereiche sind.

Ein Beispiel dafür liefert gerade die Ausweitung des Wachstumsmarktes im Schnittpunkt von Digitalisierung, Datenzugriff und Medizin, bei gleichzeitiger weiterer Entmächtigung der Menschen, die zunehmend in einem Dauerzustand der überwachungs- und behandlungsbedürftigen PatientInnen gehalten werden. Vermarktet wird dies als Zuwachs der Sorge um die Schwächeren. Dass es gerade die Alten und Kranken sind, für die durch E-Medizin, 'Smart'watch und Handys zusätzliche Zugangshürden aufgebaut werden, und welche, durch die zunehmende Anonymisierung des Zugriffs der Medizin und die datengestützte Rationalisierung der Medizin im Sinne der Optimierung von Mehrwertabschöpfung durch das Kapital, eine Verschärfung der medizinischen Gewaltverhältnisse erfahren, wird geflissentlich ignoriert.

Zunehmend werden diese Mechanismen nicht nur bei den direkten MarktakteurInnen der politischen Moralökonomie wirksam, sondern entwickeln einen Druck zur Diskursverschiebung im gesamten Spektrum, insbesondere auf diejenigen, die auf der Höhe der Zeit, heißt, auf der Höhe des aktuell angesagten Markenimage, sich selbst vermarkten wollen, zuvorderst Parteien und PolitikerInnen. Die Kultur der Lüge diffundiert jedoch über universitäre AkteurInnen, die wiederum selbst den en vogue-Diskurs bedienen wollen, auf keinen Fall als rückschrittlich erscheinen oder dabei ertappt werden wollen, gar die falsche Sprache oder Symbole zu nutzen, oder sich mit den falschen Themen zu befassen, vielleicht gar mit Kritik der verkürzten Logik von Impfkampagnen, inzwischen selbst in die linksradikale Szene.

Dies alles führt zu einer Kultur der Lüge, der Entleerung und Umwidmung linker Begriffe und Symbole, in der diese primär als Hülle vorweggetragen werden, wie einst die Reliquienschreine des Katholizismus´, und die Frage der realen Gesellschaftsverhältnisse und ihrer Kritik von diesen entkoppelt wird. Die 'alte' grundlegende Gesellschaftskritik wird nicht mehr rezipiert oder verworfen. Die Abgrenzung und Kritik an der 'alten' Linken erfolgt dabei unter Verweis auf 'falsche' Begriffe, verwerfliche Äußerungen, die sich fast immer nur kontextlos an wenigen Worten festmachen. Dort, wo die Kritik berechtigt ist, wird sie nicht zur Erweiterung des Begreifens genutzt, sondern zum Verwerfen des schon Gewussten. Die Kommodifizierung des Politischen führt gerade dort, wo das Politische zur Ware und jedes strukturell emanzipatorischen Gehalts, jeder fundierter Gesellschaftskritik, beraubt wird, zu überschießenden Moralisierungen. Waren Kreuzzüge doch schon immer geeignet zur Verdeckung des Mangels.

Diese Kreuzzugsmentalität gegenüber allem, was den simplen Wahrheitsschemata der Moralökonomie zuwider läuft, zeigte sich in den letzten eineinhalb Jahren besonders ausgeprägt im Umgang mit den GegnerInnen der 'Infektionsschutzpolitik'. Statt einer differenzierten Auseinandersetzung mit der berechtigten Kritik dieser, nicht nur an den Maßnahmen, sondern insbesondere auch an der Art und Weise, wie diese unter Verweigerung jeglicher Form eines kritischen Dialogs durchgedrückt wurden, wurde der Fokus allein darauf gelegt, dass hier die falschen Symbole benutzt wurden, zum Teil zusammen mit den falschen AkteurInnen demonstriert wurde, und die falschen Fahnen zu sehen waren. Statt die real Machthabenden in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu kritisieren und herauszuarbeiten, dass viele der Probleme bei der Bewältigung der Krise wesentlich auf strukturelle Entscheidungen eben dieser EntscheidungsträgerInnen und die strukturellen Gesellschaftsverhältnisse zurückzuführen sind, waren große Teile der außerparlamentarischen Linken primär mit dem Bashing rechter Randgruppen beschäftigt, und damit, alle KritikerInnen der Verhältnisse mit diesen in einen Topf zu werfen. Nun ist es ein reales Problem, dass viele derjenigen, welche durch die unter den Bedingungen der Corona-Politik und der herrschenden Bewältigungsstrategien sich zuspitzende Transformation des Kapitalismus´ hin zum Daten- und Finanzkapitalismus in Verelendungsprozesse gedrängt werden, zu regressiv-reaktionären politischen Schlussfolgerungen neigen. Dass hier die falschen Schlussfolgerungen gezogen, die falschen Fahnen geschwenkt werden und eine falsche reaktionäre Politik unterstützt wird, heißt aber nicht, dass die gesamte zugrundeliegende Kritik falsch oder die Realität der erfahrenen Gewaltverhältnisse inexistent wäre. Die Benennung der Interessenagenturen des oligopolistischen Digital- und Finanzkapitalismus´ als zentralem Gegner ist auf der derzeitigen Entwicklungsstufe des Kapitalismus´ erst einmal richtig. Und darauf hinzuweisen, dass es jene sind, welche die Krise als Chance begreifen und diese rücksichtslos zu ihrem Vorteil nutzen, ist unbestreitbar richtig. Richtig ist auch die Erkenntnis, dass die 'alten' Grundrechte der informationellen Selbstbestimmung und der Selbstbestimmung über den eigenen Körper der Ausweitung des Marktzugriffs auf die Körper und das Leben der Menschen im Wege stehen – zumindest in den Gruppen der Bevölkerung, die sich der schönen neuen Welt der Selbstüberwachungstechnologie, der technologischen Durchdringung des Alltags und der Verlagerung von politischen Entscheidungen in Expertengremien verweigern. Genau diese Gruppen sind es, die als Teil der Bewegung der KritikerInnen insbesondere in den Fokus der Diffamierungskampagnen auch durch 'Linke' geraten und durch die Begriffszuweisung Corona-LeugnerInnen mit Holocaust-LeugnerInnen gleichgesetzt werden – und das nur, weil sie es z. B. wagen, ExpertInnen zu widersprechen.

Dies geschieht, obwohl allen zumindest implizit bewusst sein müsste, dass die körperliche Selbstbestimmung und die Bewegungsfreiheit Ausgangspunkt aller anderen Freiheiten sind, sie waren mit Abschaffung der Leibeigenschaft die ersten erkämpften Rechte. Das Recht, selbst zu bestimmen wie ich mich kleide, wen ich umarme (= wer mich umarmen darf), mit wem ich zusammenlebe, wie und mit wem ich tanze, ist wichtiger als Wahlrecht oder Redefreiheit, es ist der Kern der Würde des Menschen. Das Leben ist mehr als das nackte Leben. Selbst bei denen, die keine andere Handlungsmöglichkeit gesehen haben, fest davon überzeugt waren, dass keine Alternative zur Aussetzung dieser Rechte bestand, hätte insofern zumindest das Entsetzen ob dieser Notwendigkeit zu spüren sein müssen. Doch nichts war davon zu lesen, im Gegenteil, eine 'linke' Initiative wie 'Zero Covid' hätte den Totalitarismus des Zugriffs und den Abbau von Grundrechten am liebsten noch umfassender betrieben, bei gleichzeitiger völliger Verharmlosung des schweren Eingriffs in die Menschenwürde, die dort als Planspiel propagiert wurde.

Das Wissen, dass die Grundrechte und insbesondere das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die Verwahrung gegen den Zugriff auf den Körper, substanziell für jede Befreiung des Menschen von Zwang und Herrschaft sind, gehörte dabei, z. B. im Diskurs um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch oder in der Antipsychiatriebewegung, aber auch in der darüber hinausreichenden linken Medizinkritik der 1970er- und 1980er-Jahre, einmal zum Grundbestand linken emanzipatorischen Wissens. Auch die Funktion der Medizin als Teil der biopolitischen Zurichtung der Menschen für den kapitalistischen Verwertungsprozess war linkes Allgemeinwissen. Und auf dieser Basis wurde bewusst die Auseinandersetzung mit Alternativen zur Medizin und mit KritikerInnen dieser, z. B. impfkritischen Bewegungen, betrieben. Der naive Medizinfetischismus, der die Diskurse über die 'Infektionsschutzpolitik' auch in der 'Linken' dominiert, fällt weit hinter dieses schon Gewusste zurück.

Als konkretes Beispiel sei hier erneut auf den Umgang mit Wolfgang Wodarg und seiner Kritik an der 'Infektionsschutzpolitik' insbesondere auch durch sich selbst als 'links' begreifende AkteurInnen verwiesen, hier noch einmal kurz die Fakten: Relativ früh äußerte sich Wolfgang Wodarg kritisch zur 'Infektionsschutzpolitik'. Wodarg ist ein auf dem Gebiet der Epidemiologie qualifizierter Fachmann, der darüber hinaus differenziertes Wissen um die politischen Abhängigkeiten von Entscheidungsinstitutionen hat. Als Mitglied des Deutschen Bundestages von 1994 bis 2009 war er Initiator und Sprecher in der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin". 2009 initiierte er in Straßburg den Untersuchungsausschuss zur Rolle der WHO bei der H1N1 (Schweinegrippe) und war dort nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament als wissenschaftlicher Experte weiter beteiligt. Nun waren die Einschätzungen von Wodarg bzgl. Covid-19 falsch, sie lagen aber nicht weiter von der Wahrheit entfernt als die Aussagen der Experten der WHO und RKI zu diesem Zeitpunkt. Nur, dass die WHO die Gefahr mit Angaben einer Sterblichkeit im Prozentbereich bei Erkrankung zeitweise um einen Faktor 10 zu hoch ansetzte, während Wodarg die Gefahr erheblich unterschätzte und mit der normalen Grippe verglich. Eine kritische Linke hätte aber unabhängig davon die gut abgesicherten kritischen Analysen aus der Erfahrung mit dem Umgang mit H1N1 (Schweinegrippe) ins Spiel bringen müssen, die klar herausgearbeitet haben, dass die entscheidenden Fachleute auf Ebene von WHO und RKI eben NICHT unabhängig, sondern in vielfältige Interessenverflechtungen eingebunden sind. Das heißt, diese Institutionen und die meisten ExpertInnen sind NICHT primär einem abstrakten Wohl der Allgemeinheit verpflichtet, sondern den Interessen eines technokratischen, medizinisch-industriellen Komplexes, und darüber hinaus eingebunden in die neoliberalen Machtapparate. Dies wäre dann eine gute Ausgangsbasis gewesen, um die Politik kritisch zu hinterfragen. Die meisten, auch sich selbst als 'links' begreifende AkteurInnen, hatten aber nichts besseres zu tun, als rhetorisch auf Wodarg einzuprügeln. Dass sich dabei große Teile der antiautoritären 'Linken' autoritätsfixierter als der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Wodarg positionierten, zeigt auf elementarer Ebene den Verlust der Fähigkeit zu einer machtkritischen Analyse in 'linken' Strukturen.

Es lassen sich viele Beispiele für die Irrationalität der sich gerade als besonders rational, und vernünftig gebenden und 'als links' verstehenden AkteurInnen im Kontext der 'Infektionsschutzpolitik' aufführen. Hier nur noch ein weiteres, besonders die Armutsbevölkerung betreffendes Beispiel: In einigen demokratisch regierten Ländern der USA wurde sehr frühzeitig thematisiert, dass Gefängnisse ein erhöhtes Risiko für die Verbreitung der Krankheit erzeugen. Viele Menschen auf engem Raum über lange Zeiten hinweg ohne Ausweichmöglichkeiten einzusperren, ist unter den Gesichtspunkten des Infektionsschutzes schlichtweg ein Gefährdungshandeln. Tatsächlich wurden auch in einigen Staaten Maßnahmen ergriffen und minderschwere Fälle entlassen, um die Belegungsdichte zu reduzieren. Nun besteht allerdings unter Infektionsschutzgesichtspunkten kein wesentlicher Unterschied darin, ob ich Menschen in einem überbelegten, großen, schlecht gewarteten Wohnkomplex einsperre, oder in einem Knast. In beiden Fällen gilt, dass die Virusverbreitung durch solche Strukturen maximiert wird. Im Wohnkomplex ist es aufgrund der Altersstruktur der BewohnerInnen im Vergleich zum Gefängnis sogar noch problematischer. Eine Politik der Ausgangssperre führt im Kontext einer bereits weiten Verbreitung des Virus über einige Hotspots hinaus also zur massiven Gefährdung der Bevölkerung in solch schlechten Wohnlagen. Die Politik der Ausgangssperre in New York hat zweifellos ihren Anteil an der hohen Zahl an Toten durch Covid-19 gerade in jener Bevölkerungsgruppe. Durch die bekannten Zahlen aus New York war dies eigentlich auch offensichtlich. Dass ein solches Mittel, das sich gezielt gegen die Armutsbevölkerung richtet, und in dieser dazu angetan ist, die Opferzahl durch Covid-19 signifikant zu erhöhen, in Deutschland sogar von 'Linken' gefordert wurde und letztendlich zumindest teilweise umgesetzt wurde, verweist auf die völlige Irrationalität des geführten Diskurses. Und die Zahlen sind auch für Deutschland eindeutig, ein klarer Zusammenhang zwischen Wohnverhältnissen und Gefährdung durch Covid-19 ist statistisch nachweisbar.

Dieser Zusammenhang macht darüber hinaus ein Problem deutlich, das die gesamte 'Infektionsschutzpolitik' betrifft. Jenseits der ersten Maßnahmen, wie der Schließung von Veranstaltungsstätten, der Unterbindung größerer Menschenansammlungen insbesondere in Innenräumen und der Maskenpflicht in Innenräumen, in denen sich viele Menschen aufhalten, waren die meisten Maßnahmen überwiegend symbolischer Aktionismus mit geringer Wirkung bzgl. des Infektionsschutzes. Dies war zumindest größtenteils zuvor abschätzbar und lässt sich inzwischen anhand der Vergleichsstatistiken unterschiedlicher Regionen mit unterschiedlichen Maßnahmen nachweisen: Insbesondere eine Vielzahl der drastischeren Maßnahmen hatten wenig bis keinen positiven Einfluss auf die Virusverbreitung. Relevanter waren offensichtlich klimatische Bedingungen, Altersstruktur der Bevölkerung, Gesundheitsstand sowie Wohn- und Lebensverhältnisse, die sich nicht von heute auf morgen ändern lassen. Statt weitgehend sinnlose und immer repressiver werdende 'Infektionsschutzpolitiken' zu bewerben, hätte die Linke gerade diese Politik eigentlich kritisieren und die genannten real zugrunde liegenden Probleme thematisieren, die Wohn- und Lebensverhältnisse in den Armutsgettos und den aufgrund der äußeren Lebensbedingungen schlechteren Gesundheitszustand der dort lebenden Bevölkerung und die Ursachen dafür bewusst machen müssen. Doch dies hätte eine komplexe Analyse des Infektionsgeschehens vor dem Hintergrund einer gesellschaftskritischen Analyse der sozialen Verhältnisse vorausgesetzt.

Nun kann man die Reaktionen der 'Linken' sicherlich partiell auf die am Anfang dargestellten Entwicklungen zurückführen, doch greift auch dies als alleinige Erklärung zu kurz. Wie kommt es zum Regress selbst weiter Teile der antiautoritären Linken ins autoritäre staatsaffirmative Lager? Einige dieser Merkel-AnarchistInnen handelte zumindest im Eigenbild aus tiefster Überzeugung. Die Ursache scheint hier in einer Verdrängungsleistung zu liegen: Viele AnarchistInnen tun so, als wäre Freiheit kostenfrei zu haben, als würde mehr Freiheit nur dazu führen, dass grundsätzlich alles besser wird. Real bedeutet das, freie Entscheidungen zu akzeptieren, die Freiheit der anderen zu akzeptieren, auch zu akzeptieren, wenn sie falsche Entscheidungen treffen, diese haben in einer komplexen Gesellschaft aber immer auch vielfältige Folgen für das Umfeld. Der Satz "die Freiheit des einen hört da auf, wo die Freiheit des anderen beginnt" hört sich zwar schön an, hat aber mit der Realität wenig zu tun. Realistischer ist: "Ich akzeptiere deine Freiräume und du meine, und dafür nehmen wir beide gegenseitig auch Nachteile in Kauf.". In der Pandemie wurde dieser Gesellschaftsvertrag von den BefürworterInnen der 'Infektionsschutzgesetzgebung' einseitig aufgekündigt. Unter den Bedingungen von Covid-19 gab es nur eine Möglichkeit, die Verdrängung der Kosten von Freiheitsrechten aufrechtzuerhalten: Es wurde schlichtweg bestritten, dass die verhängten Einschränkungen reale Freiheitseinschränkungen seien, ja, sie wurden teils zur Befreiung von Zwängen umdefiniert – was spätestens bei der Befreiung vom Zwang, zwischen 22.00 und 5.00 Uhr nach draußen gehen zu müssen, in voller Absurdität deutlich wird. Es fehlt hier an der von Peter Brückner geforderten Gewissenlosigkeit des Denkens, die bereit ist, sich der Realität in all ihrer Widersprüchlichkeit zu stellen.

Freiheits- und BürgerInnenrechte müssen nicht zu mehr Wohlstand und einem längeren Leben führen, sie finden ihren Wert in sich. Und auch dort, wo sie zur Verkürzung von Menschenleben führen, sind sie deshalb nicht automatisch zu verwerfen. Gerade in Krisensituationen sollte an Freiheits- und Grundrechten festgehalten werden, selbst wenn dies zum gegebenen Zeitpunkt zu mehr Leid führt. Zu bedenken ist bei der Einschränkung der Freiheits- und Grundrechte immer die langfristige Konsequenz, auch wenn die Einschränkung dieser Rechte nicht direkt zum Tod von Menschen führt, so gilt doch: Die Freiheit stirbt zuerst, die Menschen sterben später.

Welche Alternative gibt es? Den Aufbau einer starken außerparlamentarischen Linken, die ihren gesellschaftskritischen Ansatz umsetzt.

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07-5 - Rekurs - C.J. Hopkins

- die Pathologisierung der vom Narrativ des globalen Kapitalismus´ abweichenden Diskurse -


Im Kontext des mit Covid-19 legitimierten Ausnahmezustandes spitzten sich in der politischen Auseinandersetzung vorher schon bekannte Formen neuer Diskurssteuerungen zu und wurden als verallgemeinerte durchgesetzt. Es gab keine politischen Differenzen mehr, keine Interessengegensätze zwischen globalen KapitaleignerInnen und den sich in der Verwertungsmaschinerie die Existenz sichern Müssenden, sondern nur noch ein Richtig und Falsch, bzw. ein Gut und Böse (böse = faschistisch, egal ob auf Äußerungen von Linken oder Rechten bezogen). Der linke englischsprachige Schriftsteller und Satiriker C.J. Hopkins hat diese neue Form einer globalen Normalisierungsgesellschaft, in der es nur die dem globalen kapitalistischen Verwertungsapparat dienlichen Verhältnisse als nicht hinterfragbare Normsetzung und die Pathologisierung jeglicher Form des Widerstandes gibt – unabhängig davon, ob dieser Widerstand von linken sozialistisch oder anarchistisch inspirierten Gruppen oder von NeonationalistInnen ausgeht –, in einer Reihe beißend satirischer Texte, anhand der Zeit der Kandidatur und der nachfolgenden Präsidentschaft Trumps und der Unterminierung der Regierung Trump durch die neoliberalen Machtstrukturen, bereits lange vor Covid-19 herausgearbeitet. Seine teils sehr zugespitzten satirischen Texte sind nicht alle gelungen, und sollten wie alle Texte grundsätzlich kritisch gelesen werden, dies sollte aber keine davon abhalten, die Gedanken zu nutzen, die wirklich treffend sind. Das Folgende bezieht sich auf von ihm im Buch 'Consent Factory Essays, Trumpocalypse' publizierte Texte. Ein Buch, das ausdrücklich als Lektüre zu empfehlen, leider aber nur in englischer Sprache erhältlich ist. Entsprechend wurden die zitierten Abschnitte unten für diesen Text übersetzt.

Hopkins analysiert die Wahl Trumps als neonationalen Aufstand gegen die herrschende Ordnung des globalen Kapitalismus´, für den Staaten, selbst die USA, nur noch nachgeordnete Dienstleister sind. Der neonationale Aufstand ist für ihn das rechte, in Teilen rassistische und autoritäre Gegenstück zur linken Kritik und widerständigen Praxis gegen den globalen Kapitalismus und die mit ihm verbundenen AkteurInnen in Medien, Politik und Staat. Für die AkteurInnen des globalen Kapitalismus´ ist der Unterschied links und rechts irrelevant, ihre Agenda kennt nur die Kapitalinteressen und ihre globale Durchsetzung. Politische Überzeugungen sind aus ihrer Sicht nur interessant, wenn sie instrumentalisierbar sind, um diese Agenda durchzusetzen, ihnen ist es egal, ob sie dafür die 'linke' Identitätspolitik nutzen, die ökologische Frage oder rassistische Politiken. In Europa kann diese von Hopkins beschriebene Politik in Reinform in Frankreich betrachtet werden: Die Regierung Macron, gestartet als liberalreformistisches Projekt, hat sich in kurzer Zeit zu einem autoritären, reaktionären, rechtspopulistischen Projekt gewandelt. Identisch geblieben ist dabei aber der neoliberale Kern der Politik Macron, die optimierte Zurichtung der französischen Gesellschaft für das internationale Kapital.

Für die Pathologisierung abweichender Meinungen, 'The Pathologization of Dissent' (Oktober 2016), spielt es ebenfalls keine Rolle, ob diese linke oder rechte AkteurInnen trifft, ausgegrenzt wird alles, was die herrschende global-kapitalistische Ordnung infrage stellt.


Im Prozess die Herstellung der neuen Normalität, 'Manufacturing Normality' (Dezember 2016), werden die politischen Gegensätze, Klassengegensätze oder Interessengegensätze aus dem Diskurs verbannt, durch Gegensatzpaare wie richtig / falsch, normal / unnormal, gesund / krank, real / fake usw. ersetzt und so das begriffliche Erfassen von Herrschaft unterbunden.


Dabei sind die Machtagenturen des globalen Kapitalismus´, ihre Netzwerke in Medien, Staat, Politik und Wirtschaft kein homogener Zusammenhang, keine Gruppe von VerschwörerInnen, sondern austauschbare AkteurInnen des systemischen Selbsterhalts dieser Strukturen, fraktioniert, und sie bewegen sich in Widersprüchen.


Ein zentrales Problem für die Linke, das sich aus dieser Realität ergibt, beschreibt Hopkins in 'The Resistance and Its Double'. Die NeonationalistInnen, die Trump zur Macht verholfen haben, sind reale GegnerInnen des neoliberalen globalen Kapitalismus´ und wenden sich durchaus zum Teil auch real gegen bestimmte Macht- und Herrschaftsstrukturen dieses globalen Kapitalismus´. Die Nichtunterzeichnung der internationalen Handelsverträge zwischen den USA und Europa, bzw. zwischen den USA und asiatischen Staaten durch Trump, entsprach auch zentralen linken Forderungen und war Ziel jahrelanger linker Kampagnen. Dies ändert aber nichts daran, dass insbesondere viele der die Politik bestimmenden AkteurInnen der NeonationalistInnen reaktionäre RassistInnen, SexistInnen usw. sind, autoritäre Staatsformen bevorzugen und die Umsetzung dieser Ziele auch in ihrer Politik verfolgen. Die Linke steht zwei politischen GegnerInnen gegenüber: den neoliberalen MachtakteurInnen des globalen Kapitalismus´ und den NeonationalistInnen. Jede emanzipatorische linke Bewegung sollte begreifen, dass beide Machtfraktionen GegnerInnen sind.


Die 'linke' Identitätspolitik und die ökologisch-technokratische Modellierung des Finanzkapitalismus, wie sie zurzeit vom neoliberalen Mainstream der USA vertreten werden, sind im global-kapitalistischen Programm dieser VertreterInnen der Interessen der globalen Konzerne untrennbar mit einer weiteren Zuspitzung von weltweiten Verelendungs- und Ausbeutungsprozessen verknüpft.


Und welche dann noch mit den treibenden Kapitalfraktionen dieses Digitalkolonialismus zusammenarbeitet oder sich von den Stiftungen eben jener finanzieren lässt, muss sich nicht wundern, wenn die Betroffenen von der 'kreativen Zerstörung' ihrer Lebensgrundlagen durch den Digital- und Finanzkapitalismus aus den Schichten des KleinbürgerInnentums und der FacharbeiterInnen dann in diesen Gruppen und NGO ihren Feind sehen. Finanziell abhängig von diesen Stiftungen und AkteurInnen sind z. B. die meisten Institutionen der 'neutralen' Faktenchecker, denen allein aufgrund dieser Tatsache natürlich niemand von denen, die sie erreichen wollen, glaubt – und zwar völlig unabhängig davon, ob die Aussagen falsch oder richtig sind. Die Institutionen der Faktenchecker agieren vergleichbar einer NGO, die vorgibt, unabhängig zum Thema gesunde Ernährung zu arbeiten, sich aber von Coca Cola und Nestlé finanzieren lässt, zusätzlich versucht, Kritik zu unterdrücken, und dann die Leute, die sich misstrauisch äußern, als VerschwörungstheoretikerInnen bezeichnet. Aktive aus dem Spektrum z. B. von LGBTIQ, antirassistischen oder anderen herrschaftskritischen Initiativen machen dabei einen doppelten Fehler, wenn sie mit den treibenden Kapitalfraktionen dieses Digitalkolonialismus´ zusammenarbeiten. Zum einen entsolidarisieren sie sich damit hinsichtlich eines Teils der Unterdrückten, zum anderen ändern Quoten in Vorstands- und Führungsetagen, gendergerechte und rassismussensible Sprache usw. welche die Konzerne übernehmen, nichts daran, dass die reale Wirtschaftspolitik des globalen Monopolkapitalismus´ die Verelendung breiter Teile der Bevölkerung weiter zuspitzt. Gerade die vulnerabelsten Gruppen der Gesellschaft sind davon am stärksten betroffen. Das heißt, diejenigen, die mit den AkteurInnen des Digital- und Finanzkapitalismus´ zusammenarbeiten, fördern die Zuspitzung rassistischer. sexistischer und anderer Ausbeutungsverhältnisse weltweit. Quoten bei den in der Spitze dieser Konzerne Beschäftigten und in den Stammbelegschaften ändern daran gar nichts. Gleichzeitig ist dies wie dargestellt ein zweiseitiges Problem: Die Schichten des KleinbürgerInnentums und der FacharbeiterInnen, welche Opfer dieser neuen Weltordnung werden, sind deshalb nicht automatisch progressiv, im Gegenteil suchen viele dieser Gruppen auch in Deutschland in rassistischen und sexistischen Stereotypen Halt – auch das ist leider nicht nur ein Vorurteil.

Der Widerstand gegen die zunehmende Ausbeutung der Menschen und die Zerstörung der Lebensgrundlagen wird aber nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, gegenseitig aufeinander zuzugehen und sich die immer stärkerer Ausbeutung ausgesetzte Mehrheit der Bevölkerung nicht weiter entlang rassistischer, sexistischer und anderer Stereotype oder entlang von bildungsbürgerlichen Abwertungen der anderen aufgrund ihrer inadäquaten Ausdrucksweisen usw. spalten lässt – und zumindest zu einer pragmatischen Zusammenarbeit findet.

Das heißt aber auch, dass ein 'linkes' neonationales Projekt für Deutschland, wie es von einigen VertreterInnen der sozialistischen Linken als Gegenprojekt zur Identitätspolitik vertreten wird, keine Lösung darstellt. Erstens wird es angesichts der realen globalen wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse ebenso in einem vergleichbaren Zerfall wirtschaftlicher Strukturen enden wie die vergleichbaren 'linken' neonationalen Projekte südamerikanischer Staaten, beispielsweise in Venezuela, und zweitens wird es darüber hinaus Rassismus, Nationalismus und politische Regression insgesamt stärken und weiter zur Spaltung beitragen.

Eine emanzipatorische Linke, die Freiheit und Selbstbestimmung anstrebt, muss deshalb übernationale Perspektiven für globale solidarische freie Gesellschaften gegen Staat und Kapital entwickeln, jenseits nationaler Konzepte und Identitätspolitiken. Voraussetzung dafür ist das Sprengen der Diskursgrenzen und eine eigene politische Praxis. Die Art und Weise, wie viele 'linke' Gruppen im Kontext Covid-19 agiert haben, die Hörigkeit gegenüber der medizinischen Technokratie des Neoliberalismus´ und die Art und Weise, in der zurzeit erhebliche Teile der Klimadebatte als Modernisierungsproblem des globalen Kapitalismus´ geführt werden, zeigt aber, dass dafür ein Neuaufbau widerständiger Strukturen von der Basis her notwendig ist.

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08 - Krankheitssouveränität

- Das Scheitern der totalen Institutionen, Kritik der Verhältnisse und alternative Handlungsansätze -


Kern der Freiheit des Subjekts – und damit auch Kern der Menschenwürde – ist die Selbstbestimmung über die auf das Subjekt bezogene Biopolitik. Diese umfasst die sexuelle und die reproduktive Selbstbestimmung ebenso wie die Freiheit zur Krankheit. Die Abschaffung der Leibeigenschaft war der erste und wichtigste Schritt zur Befreiung der Menschen, wichtiger als Redefreiheit oder Religionsfreiheit. Dem steht eine Medizin entgegen, die in weiten Teilen als Normalisierungsgewalt vergleichbar der Polizei agiert, historisch eng mit dieser verbunden. Dabei werden beide Gewaltapparate und ihre Gewalt gegen Einzelne über ihre Notwendigkeit zum Schutz der Gemeinschaft vor eben jenen legitimiert. Real sind viele dieser Bedrohungen aber Ergebnis der Art und Weise, in der die bürgerliche Gesellschaft ihr Zusammenleben organisiert, und der bürgerlichen Subjektivierung über Konkurrenz, Hierarchien und Besitz. Die Cluster der Virenverbreitung waren nicht zufällig die totalen Institutionen Krankenhaus, Pflegeheim und Gefängnis, und die sich immer weiter totalen Institutionen angleichenden Lebenswelten der Hochschulen und Armutswohnverhältnisse. Verstärkt wurde die Verbreitung dadurch, dass Menschen gezwungen waren, weiter in den fremdbestimmten Ausbeutungsverhältnissen eines kapitalistischen Arbeitslebens zu funktionieren. Wesentliche Teile der autoritär-repressiven 'Infektionsschutzmaßnahmen' waren darauf ausgerichtet, dies alles nicht infrage zu stellen, sondern das weitere Funktionieren zu sichern. Teils schienen sie sogar dem autoritären Traum zu folgen, die gesamte Gesellschaft in eine totale Institution zu verwandeln. Ein Alptraum, der nach der Pandemie seine Fortsetzung in der Zwangsmedikalisierung der Kinder und Jugendlichen finden könnte, die nun aufgrund der Erfahrungen in der Pandemie nicht mehr 'richtig funktionieren'. Statt ihnen Raum für die Formulierung ihrer Wut zuzubilligen und Perspektiven zur Überwindung ihrer Ohnmachtsgefühle im Sinne einer Aneignung gesellschaftlicher Handlungsmacht zu eröffnen, steht zu befürchten, dass ein Heer an TherapheutInnen, versuchen wird, ihnen einzureden, dies wäre leider alles alternativlos und ohnehin nur zu ihrem Besten gewesen. Und zur Simulation der Wiederherstellung der Normalität gibt es dann noch die chemische Keule. Dabei hätte es durchaus Alternativen gegeben: In einigen Bereichen hätte der Ausnahmezustand als Freiraum genutzt werden können. Beispielsweise im Schulsystem, zur Aussetzung des normalen Lehrplans und aller Notengebungen, um einem humanistischen Bildungsideal, wie es unter anderem Goethe formuliert hat, näherzukommen. Die Zeit hätte für Ausflüge in Kleingruppen, Projekte im Freien oder das Schaffen von Freiräumen für kreative Aktivitäten genutzt werden können. Stattdessen wurde der Schulterror digitalisiert und die Kinder wurden durch dieses Terrorregime bis in ihre Schlafzimmer verfolgt. Auch an den Universitäten wären selbstbestimmte Alternativen umsetzbar gewesen.
Hingegen wurde der totalitäre Charakter der Institutionen weiter zugespitzt, Pflegeheime wurden in Gefängnisse verwandelt und Krankenhäuser noch stärker entmenschlicht. Notwendig wäre anstelle dessen eine grundlegende Kritik dieser Institutionen, mit dem langfristigen Ziel ihrer Auflösung und des Schaffens von die Selbstbestimmung der Betroffenen fördernden Alternativen gewesen. Die Epidemie hat die Unfähigkeit dieser Institutionen, elementarste Menschenrechte und die Selbstbestimmung der dort Einsitzenden zu wahren, noch einmal zugespitzt vor Augen geführt. Das heißt, die Pandemie hat gezeigt, dass die technokratisch-medizinischen Großstrukturen und die technokratisch-medizinische Verwaltung der Menschen nicht Teil der Lösung sein kann, sondern ganz im Gegensatz ein wesentlicher Teil des Problems ist. Statt aber hieraus Schlussfolgerungen zu ziehen, wurde der Ausnahmezustand genutzt, um diese menschenfeindlichen Strukturen weiter auszubauen und mit noch mehr Zugriffsbefugnissen zu versehen. Dabei ließen sich auch in diesen Bereichen durchaus Alternativen vorstellen: Im Pflegebereich könnten beispielsweise kleine selbstverwaltete Einheiten, Alten-WG, eine Alternative darstellen. Diese würden im Pandemiefall auch nicht zu Clustern von Massenausbrüchen werden.

Natürlich beinhaltet eine solche Möglichkeit zur Selbstbestimmung auch die Möglichkeit, diese entgegen den Vorgaben der medizinischen Technokratie zu nutzen. Freiheit bedeutet auch die Freiheit, Risiken einzugehen und selbst Entscheidungen zu treffen, die sich im Nachhinein als falsch erweisen können. Freiheit muss nicht effizient sein, um sich zu legitimieren. Die Achtung der Menschenwürde, der Selbstbestimmung und der körperlichen Integrität im Sinne der Selbstbestimmung über den Körper muss nicht die Produktivität steigern oder die Virusbekämpfung erleichtern, sie darf ihr im Wege stehen und ist trotzdem zu beachten. Das Risiko der Gefährdung Dritter kann dabei durch dezentrale Strukturen reduziert werden. Völlig auszuschließen ist die Gefährdung Dritter nie, z. B. geht jede AutofahrerIn ein Tötungsrisiko gegenüber anderen Menschen ein. Hier ist eine gewisse Toleranz notwendig, oder die Gesellschaft lähmt sich selbst, viele Risiken können aber durch intelligente Strukturvorgaben reduziert werden, beispielsweise durch die schon genannte Dezentralisierung. Es offenbart Respektlosigkeit vor schwerstkranken alten Menschen, diese zu bevormunden und ihnen nicht zu ermöglichen, selbst zu bestimmen, welche Risiken sie eingehen wollen, gerade angesichts des ohnehin gewissen nahen Todes. Viele Handlungen erscheinen eher als Rache der Kinder an den ihnen nun ausgelieferten Eltern für alle erlittenen Demütigungen als Kind – unter dem Deckmantel der Liebe. Der Hass wird deutlich in der Ignoranz des freien Willens. Alte Menschen mit insgesamt höheren Risiken gehen bei fast allem, was Spaß macht, hohe Überlebensrisiken ein. Die falsche Schlussfolgerung, diese Risiken zu unterbinden, unterbindet das Leben. Die Technokratie zeigt hier die Lebensfeindlichkeit einer primär auf das Überleben ausgerichteten Medizin und Pflege.

Anarchismus setzt ein anderes Verhältnis zu Leben, Tod und körperlichem Verfall voraus, eine alternative Subjektkonstitution. Tod und Krankheit lassen sich nicht verhindern, es geht darum, einen Umgang mit diesen Lebensrealitäten zu finden. Der Versuch der Verdrängung von Tod und Krankheit aus dem Leben führt zu unverantwortlichem Handeln und Ausgrenzungen. Das moderne liberale BürgerInnentum hat ein Verhältnis zum Tod ausgebildet, das auf einer Fixierung auf das nackte Leben basiert, die Menschen werden unter diesem Diktum immer mehr zur Unterbindung des lebendigen Lebens angehalten und auf eine Art zombieskes Dasein reduziert. Lebendiges Leben ist immer auch sterbliches Leben. Statt Menschen in einem Vakuum zu verpacken, gilt es, Tod und Verfall als Teil des Lebens zu akzeptieren. Die langfristige Tendenz, aus der Gesamtgesellschaft eine einzige Klinik zu machen, die Zunahme von Köperformierungen, die in den Alltag eindringen, den Körper durchdringen und jeden Freiraum schließen, die immer weitere Ausweitung des Krankheitsbegriff, bis jeder dann irgendwann permanent krank und medizinischer Überwachung bedürftig ist, ist inakzeptabel. Statt der Verwahrung bis zum Tod ist die Selbstbestimmtheit im Leben und im Tod zu fordern. Welches Leben Menschen wollen, welches Verhältnis zu Sexualität, Körper und Verfall für sie das richtige ist, sollten Menschen selbst bestimmen können. Die Warenformierung, die zunehmend den Körper erfasst, steht dem entgegen, die Befreiung ist hier bis heute ein nicht eingelöstes Versprechen, das noch realisiert werden muss. Anstelle der Healthy Life Years Expectancy, des EU-Maßstabs für die Zeit, in der Menschen im kapitalistischen System vernutzbar sind, fordern AnarchistInnen die Happy Lazy Years Expectancy als Maßstab zu verankern. Grundsätzlich gilt es, sich der produktivistischen und leistungsorientierten Ideologie entgegenzustellen.

Statt Gesundheitsoptimierung muss die Forderung lauten: Kranheitssouveränität – und diese schließt die Freiheit zur Krankheit ein. Die Freiheit zur Krankheit setzt dabei natürlich die Freiheit zur Möglichkeit der ärztlichen Behandlung voraus.

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09 - Literaturhinweise & Anmerkung zur 'linken' Kritik der KritikerInnen der 'Infektionsschutzregelungen'

- Einige Texthinweise zur Auseinandersetzung mit der Medizin als totaler Institution und zur Kritik gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse aus Sicht linker Theorie, Praxis und Literatur -


Im Folgenden noch einige passende Literaturhinweise und eine Abschlussanmerkung zum Umgang mit Texten:



Im Kontext der Debatten um die 'Infektionsschutzmaßnahmen' ist hier leider ein zusätzlicher Hinweis notwendig: Im Zuge der Zuspitzung und des gegenseitigen Aufschaukelns werden auf allen Seiten Vergleiche gezogen, die nicht nur jede Realität vermissen lassen, sondern andere Gewaltverhältnisse durch den Vergleich mit der Situation unter Covid-19 verharmlosen. Insbesondere gilt das für die auf allen Seiten vielfach genutzten Faschismusvorwürfe. Leider haben sich dazu auch ansonsten differenziert argumentierende Autoren, wie die in diesem Text genannten C.J. Hopkins und Giorgio Agamben hinreißen lassen. Dies ist klar zu kritisieren, nicht nur, weil sie damit ihre üblicherweise durchaus interessanten Analysen durch völlige Überzeichnung unglaubwürdig machen, sondern weil diese Texte, insbesondere einige der Texte von C.J. Hopkins, real dazu geeignet sind, die einmalige und historisch herausgehobene Gewalt gegen JüdInnen im NS zu verharmlosen und Anschlussfähigkeiten für revanchistische antisemitische Politikfraktionen liefern, mit denen diese AutorInnen nichts verbindet. Antisemitismus ist ein reales und wieder zunehmendes Problem. Darum ist es aus kritisch-anarchistischer Sicht wichtig, solche falschen Vergleiche deutlich zu kritisieren, als falsch zu benennen und zurückzuweisen. Und Hopkins und Agamben sind auch nicht die einzigen AutorInnen, für welche dies gilt. Der Fehler, der Ausgangspunkt dieser Fehleinschätzungen, ist das Narrativ vom Zeitenende bzw. der Zeitenwende, welches insbesondere auch von den BefürworterInnen der 'Infektionsschutzmaßnahmen' mit ihrem Diskurs der 'Neuen Normalität' beschworen wurde, und das letztendlich ein Teil der Propagandamythologie des Digitalkapitalismus´ ist, mit dem dieser seit Jahrzehnten versucht, die in diesem Text beschriebenen Prozesse der 'kreativen' Zerstörung und ursprünglichen Akkumulation zu legitimieren. Es gibt aber keine von irgendeiner höheren Macht, Schicksal oder Gott vorgegeben Zeitenwenden oder notwendigen gesellschaftlichen Entwicklungsrichtungen. Die Gesellschaftsverhältnisse werden von Menschen bestimmt, auch unter Berücksichtigung, dass diese Gesellschaftsverhältnisse gleichzeitig auf die Menschen zurückwirken. Das heißt, wir haben es bei diesem Narrativ der Zeitenwende mit einer Erzählung zu tun, die primär dazu da, ist zu verdecken, dass es hier um die Neuformierung der Gesellschaft im Sinne von Machtinteressen und um Machtpolitik geht. Verdeckt wird dabei auch, dass es sich dabei um Gesellschaftsprozesse handelt, die über Jahrzehnte hinweg laufen, und dass entsprechend Widerstand möglich ist, selbst dort, wo momentan ein Eindruck der Überwältigung entsteht. Hopkins und Agamben scheinen dies vergessen zu haben, sie lassen sich von der Kulisse überwältigen und sehen einen biopolitischen Faschismus im Aufmarsch, statt hinter besagte Kulisse zu blicken. Die naturwissenschaftlich-technokratischen Allmachtsfantasien der neuen postdemokratischen Strömungen, die heute erhebliche Teile der politischen Parteien in Deutschland dominieren, basieren aber vor allem auf Fake und Hybris, ihre Macht gründet sich vor allem auf dem Glauben an sie, vergleichbar Ideologien wie der Rassenbiologie Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Aufgabe einer technokratiekritischen Linken ist es, diesen Kult als solchen zu entlarven.

Die Bundesrepublik Deutschland ist keine totalitäre Diktatur und erst recht kein faschistischer Staat, nur eine ganz normale repressive parlamentarische Demokratie. Das heißt, es besteht die Möglichkeit, durch Basisbewegungen von unten zumindest Teile dieser Prozesse zu stoppen und das politische Bewusstsein für eben jene Prozesse zu schaffen. Die Ausgangsvoraussetzungen hierfür sind nicht schlechter als für die emanzipatorischen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre. Diffamierung durch ParteipolitikerInnen und Mainstream-Medien gehört dabei zum ganz normalen Alltag, das war in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht anders. Wichtig ist es, sich davon nicht beeindrucken zu lassen und stattdessen aufzuzeigen, dass der Kaiser nackt dasteht. Die Politik im Kontext Covid-19 könnte sich dabei sogar langfristig als hilfreich erweisen, da durch sie viele Defizite dieser technokratischen Ansätze und der mit ihnen einhergehenden Dysfunktionalitäten und Entdemokratisierungsprozesse offen zutage traten. Und die Zensurversuche im Kontext dieser Politik sind vor allem ein Zeugnis der Schwäche des Machtapparates, dessen Fähigkeit zur Sicherung der kulturellen Hegemonie schon so reduziert ist, dass diese bereits von ein paar YouTuberInnen, BloggerInnen und KommentatorInnen gefährdet werden kann.

Eine neue Form autoritärer Repression stellen im Zusammenhang des Corona-Diskurses allerdings die 'linken' PostdemokratInnen aus dem Umfeld der BefürworterInnen der 'Infektionsschutzpolitik' dar, die Antisemitismus- und Faschismusvorwürfe verwenden, um antiautoritäre Linke zu diffamieren und denen AutorInnen wie Hopkins oder Agamben in die Falle laufen. Dabei werden von diesen AkteurInnen, die teils aus dem Spektrum der Grünen, teils aber auch aus der AntiFa kommen, gleichzeitig der autoritäre Obrigkeitsstaat und klassische Züge autoritärer Charakterstrukturen affirmiert, und somit die Grundlagen von Antisemitismus und Faschismus. Das Agieren dieser neurechten Fraktionen innerhalb der 'Linken' scheint aber nicht nur taktisch bedingt zu sein, viele agieren offensichtlich als Begriffs- und Maskenwarte, um ihre sonstige Handlungsohnmacht zu kaschieren. Im Besonderen problematisch ist, dass sie dabei gleichzeitig linke emanzipatorische Begriffe autoritär repressiv umwidmen und auf diese Weise die auf die Befreiung des Subjekts orientierten linken Bewegungen entsprachlichen. So bezeichnen sich jene BefürworterInnen der autoritären obrigkeitsstaatlichen 'Infektionsschutzpolitik' trotz ihres Schwenks zur autoritären Biederbürgerlichkeit weiter als Linke und versuchen sogar, diejenigen, die weiterhin die klassischen antiautoritären Positionen vertreten, wie sie beispielsweise in diesem Text dargestellt werden, als rechts zu diffamieren. Unterstützung finden sie bei diesem Versuch der Verdrehung der Realitäten in den bürgerlich-postliberalen Medien – von der taz über den Spiegel bis hin zur Zeit, im öffentlich rechtlichen Rundfunk und teilweise leider auch in ehemals linken Publikationen, die mit ihnen zusammen den Rechtsschwenk im Kontext der Corona-Diskurse vollzogen haben. Auch diesem Zerstörungswerk an linken Begriffen und Begrifflichkeiten müssen AnarchistInnen klar entgegentreten. Insbesondere deswegen, weil hier im Sinne der reaktionären Extremismustheorien, die linke und rechte Radikalität gleichsetzen, agiert wird, wenn parallel zur Affirmation eines Repressionsorgans wie dem Verfassungsschutz auch dessen neue Definitionskategorie 'verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates' mit ihrer inhaltsleeren, rein auf Diffamierung setzenden Gleichsetzung von Anarchismus und Faschismus übernommen wird. Derartige Wechsel ehemals linker AkteurInnen ins BiederbürgerInnentum, um langfristig die eigenen Karriereoptionen im Digital- und Finanzkapitalismus zu wahren, oder partiell vielleicht auch nur aus Angst vor Ausgrenzung in sich zuspitzenden Konfliktverhältnissen, sind nichts Neues. Die Selbstverlogenheit und Ignoranz, mit der diese AkteurInnen im Corona-Diskurs agieren und weiterhin versuchen, linke Begriffsfelder besetzt zu halten, wobei sie sich teilweise scheinbar nicht einmal selbst über ihren Positionswechsel im Klaren sind, hingegen schon. Eine Erscheinung, welche ihre Ursache in der im Abschnitt 'Die Kultur der Lüge' dargestellten Kommodifizierung des Politischen hat, denn in diesem Denken ist auch linke Politik nur eine Ware, die es zu vermarkten gilt – und dafür sind eben nur die Oberflächeneigenschaften wichtig, die Begriffe, nicht ihre Inhalte. Diese Entwicklung macht eine sehr klare Gegenpositionierung notwendig und die deutliche Benennung der AkteurInnen als das, was sie sind: AgentInnen einer autoritären Politik.

Zum Schluss dieser Schrift noch einmal der eingangs gemachte Hinweis zum Umgang mit diesem Text und anderen Texten: Unabhängig von den falschen Vergleich mit dem NS gilt grundsätzlich für alle Texte, auch jene, auf die im Text hingewiesen wurde, dass sie sämtlich auch die eine oder andere fragwürdige Theorie, falsche Schlussfolgerungen, Fehler und fragwürdige Wortwahlen enthalten – und zum Teil auch andere Ziele als dieser Text verfolgen. Die Nutzung eines Textes und der Verweis auf AutorInnen bedeutet nicht, dass damit alles, was diese gesagt oder geschrieben haben, für richtig befunden wird. Oder dass jene alles richtig finden würden, was in diesem Text steht. Grundsätzlich sollten Texte nicht gelesen werden, um in ihnen Erleuchtung zu finden, und keine AutorIn ist unfehlbar. Die verwendeten Texte beinhalten allesamt interessante Gedanken, die eine Basis für das Verständnis aktueller Gesellschaftsverhältnisse bilden könnten, und gerade deshalb macht ein kritisches Lesen Sinn, das nach Fehlern und nach Anregungen gleichermaßen Ausschau hält, und sich das Brauchbare dabei aneignet oder sich zu eigenen Gedanken inspirieren lässt. Auch der vorliegende Text sollte in diesem Sinne kritisch gelesen werden, als Ausgangspunkt für weiteres Nachdenken.

Fin

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Biopolitik & die Individualisierung der Öffentlichen Gesundheit

- Biopolitik im Zeitalter des partizipatorischen Totalitarismus -




Ausgangspunkt des nachfolgenden, 2012 entstandenen Textes war die kritische Beschäftigung mit dem Public Health Genomic-Projekt der EU – www.phgen.eu – in einem Arbeitskreis zur Kritik aktueller biopolitischer Entwicklungen. Biopolitik wurde dabei im Sinne Foucaults als die sowohl auf die Körper der Einzelnen (ihrer Dressur/ihrer Nutzbarmachung – Medizinpolitik, Sport, Sexualpolitik usw.) als auch auf den Bevölkerungskörper (Grenzregime, Bevölkerungspolitik usw.) bezogene Politik gefasst. Dabei wurde sehr schnell klar, dass die Kritik am Genetizismus des Public Health Genomic-Projektes der EU dem zwanghaften Verhalten, alles in der Welt auf Effekte der Genetik zu reduzieren, nur einen Teil des technokratischen Ansatzes dieses Projektes wirklich erfasste. Hier wurden viele weitere Ansätze medizinischer Herrschaftszuarbeit, biopolitischer Normierung, Disziplinierung und der Optimierung der 'Humanressourcen' (altmodisch auch Menschen genannt) aufgegriffen, neu entwickelt und benutzt.



Datensatz Mensch

Medizin- und Gesundheitspolitik ist ein wesentlicher Teil der Machtpolitiken, die das moderne Subjekt durchdringen und dabei bestimmen. Sie ist gleichzeitig Disziplinartechnologie, Normierung und Wirtschafts- und Standortpolitik. Sie verteilt Lebenschancen und setzt Ein- und Ausschlüsse fest. Krankheit ist heute vor allen anderen Faktoren in vielen entwickelten Industrieländern der wichtigste Armutsfaktor. Krankheit und Alter – eingeschränkte Arbeitsfähigkeit – führt in einer Gesellschaft, in der die Selbstvermarktung und der Kult der flexibilisierten 'ArbeitskraftunternehmerIn'den öffentlichen Diskurs und die soziale Kälte bestimmen, zu Armut und Ausgrenzung, beispielsweise im Kontext von Hartz IV. Jede emanzipatorische Kritik der Gesellschaft muss, neben anderen mehr im allgemeinen Fokus stehenden Bereichen, auch diesen Bereich der Machtpolitiken kritisch hinterfragen und Alternativen entwickeln, wenn sie nicht scheitern will.

In der Auseinandersetzung mit Texten aus dem Umfeld des Public Health Genomic-Projektes wurde unter Berücksichtigung dieses Kontexts schnell deutlich, dass die Public Health Genomic nur Teil einer Reihe neoliberaler Modernisierungen der biopolitischen Verwaltung des Menschen ist. Im Zentrum dieser postmodernen Herrschaftstechnologien steht dabei nicht das Genom, sondern die Reduktion der Menschen auf Datensätze und ihre Erfassung, Zuordnung, Verwaltung und Aussonderung, sowie die Nutzung dieser Datensätze für Regulationstechniken mit modernen, computerunterstützten, technokratisch-hierarchischen und multipolar-zentralistischen Netzwerken. Der Zugriff richtet sich dabei auf das einzelne Subjekt, dem diese Technokratie als ungreifbare, gestaltlose Vielheit gegenübertritt. Für das einzelne Subjekt wird es zunehmend unmöglich, überhaupt zu erkennen, welche Daten wo, in welcher Agglomeration und zu welcher Wirkung führen.

Der Medizinbereich soll nach dem Willen der Gesundheitstechnokratie in der EU und in Deutschland in großen Schritten nicht nur dem Datenwahn der Sicherheitsbehörden ebenbürtig werden, sondern diesen in kurzer Zeit weit überholen. In der Folge wird es nicht mehr nur TerroristInnen- und Reiseverbotslisten aufgrund der Wahrnehmung demokratischer Grundrechte oder statistisch verdächtiger Religionszugehörigkeiten und Reisegewohnheiten wie bisher geben. Vielmehr sollen flächendeckend entsprechende Regulationsstrategien (Sanktionen – Anreize – erzieherische Maßnahmen etc.) des als gesundheitsrelevant erachteten Handelns des individuellen Bürgers aufgrund statistischer Gesundheitsdaten durchgesetzt werden, um damit die gewünschten Normalisierungen des Verhaltens durchzusetzen.
Dabei wird trotz der multipolar-zentralistischen Datenwolken jeder Einzelne / jede Einzelne ganz persönlich erfasst und angesprochen – dies ist als leider ernstzunehmende Drohung zu begreifen.

Bei Fortführung der Tendenzen der neoliberalen Ökonomisierung des Menschen ist dabei realistischerweise unabhängig von und im Widerspruch zu allen verankerten Datenschutzregelungen zu erwarten, dass jeder einmal abgespeicherte Datensatz über einen Menschen früher oder später gegen diesen Menschen Verwendung finden wird. In Anlehnung an TV-Krimis sollte es insofern zukünftig in Arztpraxen, Krankenhäusern, beim Betriebsarzt, in der Apotheke usw. richtigerweise heißen: "Wir müssen Sie darauf hinweisen, dass sie Ihre Daten nicht abgeben müssen, dass wir aber, falls Sie Ihre Daten nicht freiwillig zur Verfügung stellen, die Datensätze nach unserem Wissen ergänzen. Alle Daten können gegen Sie verwendet werden."
Dabei werden viele Fälle von Diskriminierungen so unauffällig im Hintergrund ablaufen, dass sie für die Einzelnen gar nicht erfassbar sind.

Wenn Menschen z. B. aufgrund einer Datenagglomeration ihrer Gentests aus der Kinderzeit, die im Einvernehmen mit den Eltern von der Kinderärztin durchgeführt wurden ("Tut auch gar nicht weh."), mit Krankheitsdaten ihrer Cousine und ihrem Einkaufs-verhalten im Lebensmittelsupermarkt statistisch ein erhöhtes Krebsrisiko zugewiesen bekommen, und deshalb gar nicht erst zum Einstellungsgespräch für die BeamtenanwärterInnenstelle eingeladen werden (Verbeamtung wird aufgrund des Krankheitsrisikos ausgeschlossen), wird im Ablehnungsbescheid nicht der Grund aufgeführt sein, sondern nur eine freundliche Floskel: Es wurden dem Anforderungsprofil besser entsprechende BewerberInnen vorgezogen.



Missachtung der Menschenwürde

Die Achtung der Menschenwürde basiert auf der Achtung der Ideale der französischen Revolution – Freiheit – Gleichheit – Solidarität.

- Freiheit bedeutet hier, das Wollen anderer, die freie Entscheidung anderer, zu respektieren, und Möglichkeiten zur freien Entscheidung zu schaffen. Und dies beinhaltet explizit auch die Freiheit, sich für ein Handeln zu entscheiden, dessen Erfolgsaussichten im Widerspruch zur statistischen Wahrscheinlichkeit stehen.

- Gleichheit bedeutet hier, unabhängig von realen Unterschieden im Sein (Geschlecht – Rasse – Gene – Krankheitsdispositionen etc.), das Recht auf Gleichbehandlung.

- Solidarität bedeutet, andere in ihrem Wollen zu unterstützen, in ihren Kämpfen. Voraussetzung jeder Solidarität ist die Achtung des Wollens der anderen auch dort, wo es nicht mit den eigenen Wertungen und Zielen, z. B. für ein 'gesundes' Leben, übereinstimmt. Solidarität bedeutet auch, Menschen zu ermöglichen, frei und selbstbestimmt zu leben, die z. B. durch Krankheit, Alter und anderes in ihren Möglichkeiten eingeschränkt sind. Dass diese Unterstützung ihre Grenzen in den Möglichkeiten und dem Wollen des / der Unterstützenden findet, und nicht Selbstaufgabe bedeuten soll, ist trivial.

Mit diesen Idealen einer freien Gesellschaft und damit der Achtung der Menschenwürde ist die moderne technokratische Gesundheitspolitik vollständig unvereinbar. Mit ihren datengestützten Regulationstechnologien will sie ja gerade ausschließen, dass Menschen sich frei entscheiden – und damit vielleicht auch gegen die Ergebnisse der Gesundheitsstatistik.
Darüber hinaus wird sie durch die ihr immanente Reduzierung von Menschen auf Kostenfaktoren auch den Anforderungen an ein solidarisches Miteinander nicht gerecht. Gerade die für ein menschliches Leben relevanten Zuwendungen und Freiräume fallen z. B. in Abrechnungsschlüsseln für Pflegeeinrichtungen als überflüssige Ausgaben durch das Gitter kalten technokratischen Effizienzdenkens.
Dabei gibt es nichts Ineffizienteres als dieses technokratische Effizienzdenken, da der wichtigste Faktor für Produktivität, ein gelungenes Leben und ein solidarisches Miteinander der freie Wille ist. Menschen sind dort am besten, wo sie aus freier Entscheidung aktiv werden. Dies wusste der Kapitalismus in Teilbereichen ebenso zu nutzen wie alternative solidarische Politikansätze.

Es ist abstrus zu glauben, es wäre möglich, die Menschen durch technokratische Regulation auf ein Verhalten zwangszuverpflichten, und dies aus freier Entscheidung. Das Einzige, was daraus folgt, ist, dass Menschen lernen, den zwangsweise übernommenen Habitus nach außen hin schauspielerisch als freie Entscheidungen zu simulieren, bei gleichzeitiger Flucht in die innere Emigration. Dies ist heute bereits in vielen Arbeitsverhältnissen sichtbar und hat bei Aufrechterhaltung des freien Scheins der schönen neuen Arbeitswelt zur Folge, dass die Identifikation der Menschen mit ihrer Arbeit seit Jahren rapide sinkt und die Qualität entsprechend nachlässt. Gleichzeitig werden Burnout, Depressionen und andere Symptome der Stressfolgen dieses Doppellebens zu Massenphänomenen.

Die freiwillige Zwangsverpflichtung auf gesunde Lebensweisen durch die Regulationsstrategien einer datengestützten Technokratie wird vergleichbare Effekte zeitigen. Die Menschen werden lernen, nach außen hin gesundes Verhalten zu simulieren, bei gleichzeitig massivem Anstieg der Stressoren, die ein solches Doppelleben mit sich bringt. Obwohl die Menschen aufgrund dieser technokratischen Verwaltung ihres Lebens im Schnitt häufiger krank sein werden, macht dies aus Sicht des Kapitals durchaus Sinn. In der Folge werden die Krankheitskosten auf Kranke abgewälzt werden, denn in fast jedem Fall wird sich ein individueller Versagensgrund finden, auf den die individuelle Krankheitskarriere zurückgeführt wird. In den Statistiken wird dann die Gruppe der Gesunden – bei der die Simulation gesunden Lebens nicht infrage gestellt werden wird, unabhängig von ihrem realen Gehalt – der Gruppe der Kranken mit Individualhistorie ungesunden Verhaltens gegenübergestellt werden und so die vorab eingeschriebene Ursache-Wirkungs-Korrelation statistisch unangreifbar reproduziert.
Auf diese Weise können die Krankheitskosten auf die Individuen abgewälzt werden, auf Kosten ihrer Verelendung, bei gleichzeitiger weiterer Steigerung des Shareholder-Value, da nun Krankenversicherungskosten für ArbeiterInnen eingespart werden können.

Der gesundheitspolitische Zugriff auf die Einzelnen steht dabei nicht am Beginn dieser Form von Herrschaftspolitik. Am Anfang steht die Statistik, die Datenerfassung und Auswertung, die Genese von Wissen, die Entwicklung von Skalierungsfaktoren, die Konstruktion von Datensubjekten und der Entwurf von Regulationsstrategien. In dieser Phase befinden wir uns zurzeit.
Die Gesundheitsstatistik und Datenerfassung, die momentan sowohl von der EU-Technokratie als auch von der deutschen Gesundheitspolitik vorangetrieben wird, ist weder wert- noch zweckfrei, sie ist im politischen Kontext anderer Entwicklungen der Zuspitzung neoliberaler Verwertungen der 'Humanressource' Mensch zu interpretieren.

Ein Teil dieses Denkens soll hier stichwortartig dargestellt werden.



Neue Märkte

Auch die EU-Gesundheitspolitik steht unter dem Ziel der Lissabon-Strategie, die EU zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt umzugestalten-. Ein EU-gefördertes Projekt wie das Public Health Genomic-Projekt – www.phgen.eu – diskutiert die genetische Medizin zuerst als Wachstumsmarkt / Zukunftsmarkt. Um diesen zu fördern, 'müssen' innerhalb der EU Gesetze und Normen angeglichen, Hemmnisse abgebaut (z. B. negative Einstellungen der KonsumentInnen) und zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit gegenüber der USA, Japan und China Synergien auf gesamteuropäischer Ebene gefördert und ausgenutzt werden. Das ist die Logik, mit der hier zurzeit die Genetisierung der Medizin und des Menschenbildes massiv vorangetrieben wird.

Um die Nachhaltigkeit dieser Wachstumsentwicklung zu sichern, werden frühzeitig über Stakeholder-Dialoge potenzielle KritikerInnen eingebunden und abgefangen bzw. sogar für die Wachstumsstrategie instrumentalisiert. Außerdem werden Verfahrensweisen entwickelt, um 'Randbedingungen' wie Menschenrechte, Umwelt usw. soweit zu berücksichtigen bzw. sie so 'anzupassen' / umzudefinieren, dass die Wachstumsstrategie auch durch diese Randbedingungen nicht gefährdet wird.



Präventionssubjekt

Ein weiterer Hintergrund gilt dabei der Verlagerung von Gesundheitskosten auf den Einzelnen, bei gleichzeitiger Verschärfung der Anforderungen orientiert an den Anforderungen der kapitalistischen Ökonomie.
Auf EU-Ebene drückt sich dies in der Maßzahl der HLY – Healthy Life Years Expectation – als Maßstab zur Evaluation von EU-Programmen aus. HLY, die früher genauer als 'Jahre ohne Behinderung' benannt wurden (DFLE = Disability-Free Life Expectancy), sind ein Maßstab für die Zeit, in der Menschen in der Lage sind, uneingeschränkt am Produktionsprozess teilzunehmen. Sie sind also Maßstab für die Vernutzbarkeit der Menschen im kapitalistischen System. HLY werden berechnet aus den Lebensjahren, gewichtet mit einem Faktor für 'Behinderungen' ('Krankheit'), was dazu führt, dass 'behindertes' ('krankes') Leben als Leben gerechnet wird, das weniger wert ist, siehe dazu European Health Expectancy Monitoring Unit (EHEMU), European Commission DG Sanco.
Parallel dazu wird eine verkürzte Logik der 'Selbstsorge' propagiert, die darauf hinausläuft, den Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht nur durch Flexibilisierung und selbst bezahlte Bildung hinterherzulaufen, sondern zusätzlich auch noch den eigenen Gesundheitszustand als Teil der Ware 'Arbeitskraft' permanent und vorausschauend zu optimieren.

Genau in dieser Logik steht auch das Public Health Genomic-Projekt der EU. Ziel dieses Projektes ist es, genetische Testverfahren und ihre Ergebnisse in praktisch alle medizinischen Behandlungen und insbesondere auch in die Prävention zu integrieren. Die Zukunftsvision der Public Health Genomic besteht darin, alle Menschen möglichst frühzeitig (am besten pränatal) mit genetischen Screenings zu erfassen, um eine Art individuelle Gen-Karte zu erstellen, die dann Aussagen über genetische Defizite und Krankheitsdispositionen treffen soll. Damit wird ein neuer Markt geschaffen, da die Menschen unter den Handlungsdruck gestellt werden, die 'gemessenen' genetischen Defizite und Krankheitsdispositionen durch den Konsum entsprechender Pharmaka, den Konsum von 'Health Food' (Designerlebensmittel) oder den Konsum von Disziplinartechnologien (Sport, Lebensstile usw.) auszugleichen (Stichwort: HEALTHY ILL).

Den Subjekten wird dies durch zwei Anreize verkauft:

- Einmal als neue Freiheit und Handlungsoption. In einer Situation in der viele aufgegeben haben, auch nur für die kleinsten politischen und sozialen Veränderungen zu kämpfen, z. B. am Arbeitsplatz, verspricht die genetische Medizin einfache biologische Lösungsmöglichkeiten.

- Und zweitens als neuer Identitätsdiskurs. In den USA bilden sich bereits erste Identitätsgruppen von Menschen mit denselben 'genetischen Besonderheiten' heraus.



Klassenhygiene statt Rassenhygiene

Die Identitätsdiskurse laufen zumindest in Europa aber bisher nicht primär über die Biologie / Genetik, sondern über den Diskurs der 'genetic literacy'. Mit dem Begriff 'genetic literacy' wird die Übernahme der oben dargestellten Logik, der biologischen / gesundheitlichen Selbstoptimierung nach Maßgabe der genetisch zugeschrieben Dispositionen und Defizite, durch die einzelnen Subjekte bezeichnet. Diese 'genetic literacy' durchzusetzen, ist ein zentrales Ziel des EU-Public Health Genomic-Projektes und reicht weit über dieses hinaus. Dabei wird die 'genetic literacy' als eine soziale Fähigkeit vergleichbar dem Lesen und Schreiben gefasst und dadurch auch als bürgerliche Abgrenzungskategorie gegenüber den genetischen AnalphabetInnen der Unterschichten wirksam. Dies gilt insbesondere, da der Begriff nur Teil einer allgemeiner eingeforderten 'health literacy' ist, einer 'Gesundheitskompetenz'.
In den aktuellen öffentlichen Debatten um Obesity (Fettleibigkeit) und Rauchen wird der Klassencharakter der Zuschreibungen an vielen Stellen deutlich. Die Unterschichten sind in dieser Lesart aufgrund ihres Gesundheitsanalphabetismus´ arm und krank und haben ihre Situation selbst verschuldet. Damit bildet sich entlang der Begriffe der 'health literacy' und der 'genetic literacy' ein bürgerlicher Abgrenzungsdiskurs heraus, vergleichbar den Hygienediskursen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Unterschichten verschmelzen in diesem Blick mit dem Kranken und Bedrohlichem.

Wie weit dies schon gediehen ist, hat die feministische Wissenschaftskritikerin Nancy Tuana bzgl. der Folgen des Hurrikans Katrina aufgezeigt: Menschen mit Behinderungen und Kranke stellten den größten Anteil der Opfer. Dies hing einmal daran, dass in den USA Kranke und Behinderte den größten Teil der Armuts- und Elendsbevölkerung ausmachen (vor allen anderen Bevölkerungsgruppen), und zweitens daran, dass diese Gruppe am wenigsten in der Lage war, sich in Sicherheit zu bringen. Thematisiert wurde dies aber fast nirgendwo.

Zurzeit gibt es vom Public Health Genomic-Projekt u. a. dabei zumindest teilweise noch den Ansatz der 'Nachschulung' der Unterschichten in ihrer 'genetic literacy' ('health literacy'). Da aber dieser Ansatz die realen Armutsbedingungen schlichtweg ignoriert, z. B. die Realität, dass ungesunde Lebensmittel einfach billig und schnell zuzubereiten sind, dass Stressabbau durch Rauchen oder Süßigkeiten auch viel mit dem Mangel an Alternativen zu tun hat usw., ist zu erwarten, dass dies scheitert. Der Ansatz ist ähnlich unsinnig, wie in Slums mit unzureichender Kanalisation und Wasserversorgung von Einzelnen mehr Hygiene einzufordern. Zu befürchten ist, dass mit dem Scheitern dieser 'Nachschulung' eine Re-Biologiesierung der Diskurse einsetzt und sich eher klassisch sozialdarwinistische Konzepte vergleichbar denen Thilo Sarrazins auch im hegemonialen bürgerlichen Diskurs durchsetzen.



Feminisierung der Gewaltverhältnisse

In klassischen Rollenklischees gesprochen, ist die 'männliche' Herrschafts- und Gewaltausübung eng mit der Gesetzeskraft verbunden. Das übergeordnete verabsolutierte Gesetz ist zentrale Legitimationsinstanz für die 'männlich' konnotierte disziplinatorische Gewalt. Demgegenüber ist 'weibliche' Gewaltausübung und Herrschaft an das Prinzip der Sorge geknüpft. Die Gewalt gegen Menschen legitimiert sich aus der Sorge um diese Menschen bzw. der Durchsetzung der Norm. Sie behauptet, nur das Beste (Notwendige) für diese Menschen zu erzwingen. Klassisch ist dies die Erziehungsgewalt, z. B. Hygieneerziehung. Genauer ist diese Gewalt als Normalisierungsgewalt zu fassen.

Angesichts der Argumentationen in modernen Herrschaftsdiskursen, insbesondere im Bereich der Biopolitik (Public Health Genomic, Rauchverbote usw.) aber auch in der Umwelt- und der Kriegspolitik, ist zu fragen, wie weit staatliche und kapitalistische Herrschaft bezüglich ihrer Gewaltpraxen den legitimatorischen Modus gewechselt hat, von einer klassisch patriarchalen Legitimation über Gesetzesmacht hin zu einer feminisierten Gewaltlegitimation über die ' Sorge um'. In Deutschland wäre hier auch die Rolle der Partei der Grünen zu analysieren, und die Funktion einer Symbolfigur wie Angela Merkel.

Dies sind nur einige Stichpunkte zu aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklungen, die sich um viele weitere Punkte erweitern ließen, die sich ergänzen und auf welche die geäußerten Kritiken in vielen Punkten übertragbar sind. Zu nennen wären hier beispielsweise die repressiven klassenspezifischen 'Erziehungsmaßnahmen' im Kontext des Obesity-Diskurses in Großbritannien oder die Politiken zum Thema Rauchen und ihre Legitimationsdiskurse und weitere.

Hannover, 2012

Fin

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Ada Frankiewicz

- Zur Autorin -


Das Projekt Ada Frankiewicz existiert seit ca. 1999. Ada Frankiewicz wurde erfunden, um unter ihrem Namen unveröffentlichte Reste anderer Projekte in Form satirischer Texte, Streitschriften, literarischer Kurztexte u.a. zu einem neuen Projekt zusammenzufassen und zu publizieren. Sie hat seit dem mehrere Bücher publiziert und einen Kunstpreis gewonnen. Ursprünglich auf der kostenfreien Domainadresse - www.rauchen.gmxhome.de - zu finden, wurde das Projekt 2020, da gmx diesen Service eingestellt hat, auf - www.ethikkommission.info - verlagert. Die Domain stand zufälligerweise als Rest aus einem anderen Projektzusammenhang (Kritik der aktuellen Biopolitik im Sinne Foucaults) noch zur Verfügung.

Die politische Positionierung der publizierten Texte und Kunst ist von anarchistischen Ideen und Theorien beeinflusst und vom widerständigen Alltag. Aber ansich ist dies alles irrelevant, ist doch die Antwort auf die Frage, ob ein Text Sinn macht, einzig und allein davon abhängig, was im Text steht und nicht wer oder was die AutorIn ist.

Fin

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Weitere Texte und Infos
zum Thema Kritik Krankheitsdiskurse / 'Infektionsschutzpolitik'























Impressum:


























Zuletzt aktualisiert 12.08.2021



Die Freiheit zur Krankheit - Texte wider die biopolitische Dressur des Menschen - Texte zu den Stichworten: Covid 19, Corona, Infektionsschutz, Politik, Biopolitik, Körper, Disziplin, Gesundheit, Anarchie, Anarchismus, linke Kritik, Seuche, Kritik, Finanzkapitalismus, Digitalkapitalismus, Digitalisierung, Michel Foucault, Peter Brückner, Ivan Illich, Ludwik Fleck














































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Weitere Texte und Infos


Texte zum Thema Kritik der Krankheitsdiskurse und der 'Infektionsschutzpolitik' im Kontext der Covid 19 / Corona Pandemie und Literaturhinweise zum biopolitischen und gesellschaftspolitischen Kontext dieser Politiken


Sehr interessant und umfassend ist die detaillierte Medienkritik von Timo Rieg auf telepolis.de zur Berichterstattung über Covid 19 in den Medien. Sicher vertritt Timo Rieg eine andere politische Position als das Projekt Ada Frankiewicz, die von ihm formulierte Kritik liefert aber viele wichtige Hinweise auf die Fragen, die zu stellen sind.

- 1) 'Elementare Defizite der Berichterstattung'.

- 2) 'Wenn schon die Fakten nicht stimmen'.

- 3) 'Halbe Wahrheiten sind keine'.

- 4) 'Meinungsvielfalt ist unabdingbar'.

- 5) 'Verzerrte Proportionen'.

- 6) 'Objektivität ja, Neutralität nein'

- 7) 'Recherche schafft Relevanz'.


Der Jornalist Glenn Greenwald, der wesentlich an der Publikation, der von Edward Snowden öffentlich gemachten massenhaften Überwachung der Bevölkerung durch die NSA, beteiligt war, schreibt auf Substack regelmäßig zum Tiefen Staat in den USA - CIA, NSA, FBI und ihren Einflussnahmen auf die US-Gesellschaft durch gezielte Manipulationen der öffentlichen Meinung - und dem Medienversagen der großen ehemals liberalen Medienhäuser und der Internetkonzerne. Diese Artikel sind vor allem interessant, um die Reaktion der Medien im Kontext Covid 19 zu begreifen, und zeigen, dass dies kein mit Covid 19 neu entstandenes Problem ist. Die Artikel sind in Englisch.

- 'The FBI's Strange Anthrax Investigation Sheds Light on COVID Lab-Leak Theory and Fauci's Emails'.

- 'The False and Exaggerated Claims Still Being Spread About the Capitol Riot' - Eine kritische Auseinandersetzung zur Berichterstattung zum Riot und zum Eindrigen in das Capitol am 6. Januar 2021 durch Pro-Trump-DemonstrantInnen.

- 'The Media Lied Repeatedly About Officer Brian Sicknick's Death. And They Just Got Caught.' Eine der zentralen Falschbehgauptung im Mediennarrativ zum 6. Januar 2021 betrifft den Tod des Polizeioffiziers Brian Sicknick, dem einzigen Toten, der nicht zu den DemonstrantInnen gehörte.

- 'How Silicon Valley, in a Show of Monopolistic Force, Destroyed Parler' - Obwohl nachweislich Youtube und Facebook für die Organisation des Riots am 6. Januar 2021 relevanter als Parler waren, wurde dies als Anlass genutzt, um die besonders dem Datenschutz verpflichtete Social-Media-Plattform Parler im Zusammenspiel des Missbrauchs der Monopolmacht von Alphabet (Fristlose Kündigung Cloudcomputing / Entfernung aus App-Store), Apple (Entfernung aus App-Store) usw. vom Netz zu zwingen. Damit wurde eine zeitweise Dynamik der Abwanderung von Facebook zu Parler (in mehrfacher Millionenhöhe und steigend) gestoppt und ein unliebsamer Konkurrent, der Datenschutz über Gewinn stellte, zerstört. Bei Parler handelte es sich um eine Gründung aus dem libertären Spektrum mit dem Selbstverständnis hoher Datenschutzstandards und einem Engagement für Meinungsfreiheit. Parler verweigerte sich deshalb dem Ansatz, Beiträge durch automatische Algorithmen zensieren zu lassen. Die Abschaltung führte aber leider dazu, das die bürgerrechtlich orientierten Fraktionen aus dem Management von Seiten der AktionärInnen ausgetauscht wurden gegen Trump nahe AkteurInnen, sodass nicht zu erwarten ist, dass Parler den bürgerrechtlichen Ansatz fortsetzt.

- 'FBI Using the Same Fear Tactic From the First War on Terror: Orchestrating its Own Terrorism Plots' - Ein Artikel in dem Greenwald ausführt, wie das FBI Terrorgruppen durch gezielten Einsatz von V-Leuten initiiert, um sich dann mit damit schmücken zu können, diese danach zu zerschlagen. Eine Taktik, die über Jahre im Bereich des 'Islamischen Terrorismus' in den USA zur Anwendung kam und nun auf den Rechtsterrorismus übertragen wird.

- Artikel Überblick.


Matt Taibbi ist neben Glenn Greenwald ein weiterer liberaler Journalist, der Substack nutzt, um zensurfrei über die zunehmende Zensur in US-Medien zuschreiben und um den Zensierten eine Platform zu bieten. Bekannt ist seine Serie 'Meet the Censored'. Hier zwei Zensurbeispiele aus dem Kontext Covid 19. Die Artikel sind in Englisch.

- 'Meet the Censored: The U.S. Right to Know' - A nonprofit that investigates Genetically Modified Organisms and the origins of Covid-19 is the latest to see its traffic plunge after a search engine update.

- 'Meet the Censored: Bret Weinstein' - Canceled on campus for speaking his mind, he's now going through a sequel at the hands of Silicon Valley.

- Artikel Überblick.


U.S. Right To Know ist eine zivilgesellschaftliche Organisation, die seit vielen Jahren das US-Recht des Zugangs zu Behördendaten und andere Quellen nutzt, um über Gefahren insbesondere durch die Pharma und Gentechnikindustrie zu informieren. Die Organisation hat über das Right To Know Zugang zum E-Mailverkahr zu Vorgängen im Umfeld des Virusforschungslabors in Wuhan erhalten und diese öffentlich gemacht, da Teile der Forschung dort Kooperationsprojekte mit den USA sind. Die Artikel sind in Englisch.

- 'Key articles on origins of Covid-19, gain-of-function research and biolabs'.

- 'FOI documents on origins of Covid-19, gain-of-function research and biolabs'.

- U-S. Right To Know.


Persuasion ist eine Substackplattform, die zum Teil vergleichbare Themen wie Greenwald und Taibbi behandelt. Hier ein Text zu Kritik des Medienumgangs in den USA mit der Lab-Leak-Theorie bzgl. Covid 19. Die Artikel sind in Englisch.

- The Media's COVID Failure - In dismissing the possibility that the virus leaked from a lab, journalists betrayed their mission to seek the truth.


Klaus-Dieter Kolenda ist ein Mediziner, der nicht grundsätzlich impfkritisch oder grundsätzlich medizinkritisch ist, sich aber kritisch mit den Einflussnahmen der Pharmaindustrie auseinandergesetzt hat. Dieser kurze Artikel liefert eine sehr differenzierten Einschätzung zu den Impfrisiken bei Impfungen gegen Covid 19 aus dieser Sicht.

- 'Herzmuskelentzündung bei jungen Männern: sehr seltene Nebenwirkung nach mRNA-Impfungen' - "Trotzdem schätze ich das individuelle Nutzen-Risiko-Verhältnis einer Impfung bei Erwachsenen, insbesondere älteren Personen (50 Jahre und älter), und solchen mit gesundheitlichen Risikofaktoren wie z. B. einer ausgeprägten Adipositas, einem Diabetes und chronischen Herz- und Lungenerkrankungen eindeutig als positiv ein. Diese Personengruppen dürften zweifellos von einer Impfung profitieren und sollten sich deshalb für eine Impfung entscheiden, falls sie zu den bisher noch Ungeimpften gehören. Anders ist die Situation bei Kindern und Jugendlichen, bei denen eine Covid-19-Ansteckung von vielen Experten als harmloser als eine Impfung eingeschätzt wird."


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